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Im Lichte neuer globaler Dynamiken gewinnt die Frage nach alternativen Entwicklungspfaden und der Auseinandersetzung mit nicht-westlichen Epistemen zunehmend an Bedeutung. Die Tibetologin Dr.in Dagmar Schwerk, die im Oktober 2022 an die Universität Leipzig zurückgekehrt ist, widmet sich genau diesen Themen. In diesem Gespräch geht sie auf ihr aktuelles Forschungsprojekt ein, das mit einem Marie Skłodowska-Curie Postdoctoral Fellowship von der EU gefördert wird, und zeichnet die komplexen Prozesse nach, die zur Entstehung Bhutans als Nation im 18. Jahrhundert führten. Ihre Arbeit gewährt tiefgehende Einblicke in die Verflechtungsgeschichte Bhutans und bietet eine spannende Perspektive auf die Rolle des kleinen Himalaya-Staates in der Bewältigung der Klimakrise und der Covid-19 Pandemie. Schwerk betont dabei die globale Relevanz alternativer Modernitäten und plädiert für eine Dekolonisierung des globalen Diskurses über Krisen.


Frau Dr.in Schwerk, Sie befassen sich in Ihrem derzeitigen von der EU-geförderten Forschungsprojekt mit diversen Formen der Identitätskonstruktion und alternativer Nationalstaatenbildung im 18. Jahrhundert in Bhutan. Verkürzt gefragt, wie „wurde“ Bhutan—gelegen im Himalaja und zu dieser Zeit umgeben vom britischen Raj, der chinesischen Qing Dynastie und der tibetischen Regierung der Dalai Lamas—zu einer Nation? Wofür interessieren Sie sich besonders in Ihrer Forschung?

Um zu verstehen wie Bhutan als Nationalstaat entstand, ist zunächst ein Blick auf das komplexe Zusammenspiel von religiöser und sozio-kultureller Identitätskonstruktion, Identitätspolitik, und Staatenbildung im 18. Jahrhundert in Bhutan nötig. Nach der Gründung Bhutans im 17. Jahrhundert kamen schon bald große innen- und außenpolitische Herausforderungen auf Bhutan zu, die ich als „critical juncture“ identifiziert habe. Ich untersuche daher die religiöse und politische Geschichte eben dieser Zeit, was uns ermöglicht das heutige, vom Buddhismus geprägte nachhaltige Entwicklungsmodell von „Gross National Happiness“ (GNH) umfassender zu verstehen.

Von besonderem Interesse sind für mich vormoderne Differenzierungsprozesse zwischen gesellschaftlichen Sphären, Bhutans Verflechtungsgeschichte mit seinen Nachbarn und die Wirkkraft von bhutanischen buddhistischen Gelehrten als Diplomaten. Es ist ebenfalls sehr wichtig, diverse, sich sogar teils widersprechende bhutanische emische Perspektiven in diesen Prozessen zu identifizieren. Aus diesem Grund arbeite ich mit bisher unübersetzten bhutanischen und tibetischen Textquellen dieser Zeit. Zusammengefasst gewährt meine Forschung damit wichtige Einblicke in „alternative“ Nationalstaatenbildungsprozesse in Asien.

 

Sie sind Mitglied der Research Area 3, die sich mit „Epistemen in globaler Konkurrenz“ befasst. Ganz allgemein gefragt, können internationale Krisen— etwa die Covid-19 Pandemie oder die Klimakrise— dem transnationalen Lernen und besser koordinierten globalen Handeln dienen? Wie verhält es sich mit Bhutan, das als eines der wenigen CO2-negativen Länder eine Vorreiterrolle in der Klimakrise eingenommen hat? Warum ist aus Ihrer Sicht als Tibetologin die Analyse von Epistemen von Nationen, Regionen oder Bevölkerungsgruppen mit einem nicht-westlichen Entwicklungspfad wichtig?

Das sind sehr wichtige Fragen. Natürlich beeinflussen Episteme—hier verstanden als zum Beispiel Weltansichten und formelle/informelle Wissens- und Wertesysteme, in Kürze konzeptuelle Unterscheidungen über soziale Strukturen hinaus—bewusst oder unbewusst ganz maßgeblich den globalen politischen und öffentlichen Diskurs in Krisen.

Aber welche Episteme gelten und warum wird zu selten diskutiert, und es werden nicht-westliche und indigene Episteme nicht genügend berücksichtigt. Zum Beispiel sind die Stimmen von Bevölkerungsgruppen im Himalaja, für die die Folgen der Klimakrise längst bittere Realität sind und die Resilienz gegenüber natürlichen Desastern schon jahrhundertelang thematisieren, selten Teil des globalen Diskurses über Lösungen für die Klimakrise. Andere Beispiele sind Bhutans erstaunliche Bewältigung der Covid-19 Pandemie oder sein nachhaltiges Entwicklungsmodell und Umweltschutz. Anders ausgedrückt, ich spreche über eine „Dekolonisierung des globalen Diskurses über Krisen“.

Eine wichtige Rolle von Historiker:innen in den Regionalwissenschaften kann hier sein, Episteme, die nicht-westlichen Entwicklungspfaden zu Grunde liegen zu identifizieren und die globale Relevanz alternativer Modernitäten und Säkularitäten sichtbar zu machen. Damit wird die notwendige wissenschaftliche Basis für gegenseitiges Lernen und besser koordiniertes globales Handeln geschaffen.

 

Nachdem Sie vier Jahre an der University of British Columbia (Vancouver) geforscht und gelehrt haben, haben Sie sich erfolgreich um ein Marie Skłodowska-Curie Postdoctoral Fellowship beworben. Wie lief dieser Bewerbungsprozess ab und was sind Ihre bisherigen Erfahrungen mit der Fellowship?

Neben einem exzellenten Forschungsprojekt spielen im Bewerbungsprozess und während der Fellowship selbst die intensive Zusammenarbeit mit der Gastinstitution und dem/der Supervisor:in eine entscheidende Rolle. Aus meiner Sicht ist der Fokus auf eine gezielte, auf die individuellen Bedürfnisse des/der Forscher:in ausgerichtete Karriereplanung neben der großzügigen finanziellen Unterstützung eines der größten Vorteile der Fellowship. Ich nehme zum Beispiel zurzeit an dem t.e.a.m. Mentoringprogramm teil, welches sich ausschließlich an Wissenschaftlerinnen und ihren Herausforderungen in der späteren Qualifikationsphase nach der Promotion richtet.