Auch jene, die Twitter nicht regelmäßig nutzen, haben sicher die Debatte um #IchBinHanna verfolgt. Der Hashtag hat es in die breite Medienberichterstattung und in den Plenarsaal des Deutschen Bundestages geschafft, die Debatte sei dennoch hier kurz zusammengefasst: Ein bereits seit 2018 existierendes Erklärvideo auf der Homepage des BMBF sorgte für eine Welle der Empörung unter Wissenschaftler:innen, die nun mit vielen persönlichen Tweets über verpasste Chancen, fehlende Anerkennung und mangelnde Berufsperspektiven durchbricht. Im BMBF-Erklärvideo wird anhand der fiktiven Doktorandin Hanna das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG), das 2007 verabschiedet und 2016 angepasst wurde, erklärt und dessen Sinnhaftigkeit unterstrichen: Das Gesetz legt fest, dass Wissenschaftler:innen bis zu 12 Jahre an staatlichen Hochschulen oder Forschungseinrichtungen befristet angestellt werden können und fördere durch die damit entstehende Fluktuation eine Innovationskraft und verhindere, dass ältere Forschende das Wissenschaftssystem „verstopfen“.
Nun lässt sich niemand gerne vorwerfen, eine „Verstopfungsursache“ zu sein und der Beweis, dass Fluktuation und damit Unsicherheit für die Wissenschaftler:innen ein Instrument für mehr Innovationen sei, muss erst noch geführt werden. Verwirrend an der Debatte ist, dass oftmals Promovierende und Postdocs gleichgesetzt werden und zur Verteidigung des aktuellen WissZeitVG das Strohmann-Argument angeführt wird, dass nicht jeder Doktorand/jede Doktorandin einen entfristeten Vertrag erhalten kann. Das geht an der Kritik am WissZeitVG vorbei.
Denn bei aller Kritik am System: Deutsche Hochschulen und Förderinstitutionen bieten ein gutes bis ausgezeichnetes Umfeld für die Promotionsphase und mit der Entwicklung sogenannter strukturierter Promotionsprogramme und Graduiertenschulen in den vergangenen 20 Jahren werden auch immer mehr und stetig verbesserte Instrumente zur Förderung von Promovierenden geboten, die auch die notwendige Transparenz, Beratung und Qualifikation für andere Berufsfelder enthalten.
Wozu promovieren?
Promotion ist in erster Linie eine akademische Qualifikation. Für eine Karriere in der Wissenschaft ist die Promotion die conditio sine qua non – jedoch ohne Garantie auf eine unbefristete Stelle oder eine Professur. Eine Promotion dient der wissenschaftlichen Weiterentwicklung, indem neue Forschungsfelder erarbeitet, geeignete Methoden und Theorien ermittelt und neues Material erhoben werden. Die Promotion fördert also die wissenschaftliche Professionalisierung (und wird als Ausbildung verstanden; Promovierende sind in diesem Sinne Nachwuchswissenschaftler:innen).
Aber auch für jene, die keine Karriere in akademischen Institutionen anstreben, kann das Schreiben einer Doktorarbeit empfehlenswert sein, denn eine Promotion bzw. der Weg dorthin qualifiziert für sehr viele Berufe, die immer stärker wissenschaftsbasiert sind, und bildet Problemlösungskompetenzen aus, die für leitende Positionen außerhalb der Academia gefragt sind, wie die altertümlich wirkenden Fähigkeiten Beharrlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Neugier und Sorgfalt; Selbstorganisation, logisches Denken, Selbständigkeit, Kommunikationsfähigkeit und nicht zuletzt eine gewisse Resilienz und eine gestärkte Frustrationstoleranz gegenüber der Komplexität von Aufgaben und Situationen. Aus guten Gründen brauchen nicht nur die Universitäten, sondern auch viele andere Bereiche gut ausgebildete Doktorinnen und Doktoren.
Als Graduate School sehen wir – beinahe naturgemäß – die Vorteile einer Promotion und gründen darauf unser Tun. Doch wir sehen auch, dass nicht für alle unserer Alumni gleichermaßen der Übergang in die Postdoc-Phase der beste Weg ist. Um das richtige Sprungbrett zu treffen, bedarf es in dieser Übergangsphase mehr transparente Beratung, die weder externe Coaches noch die Karriere- bzw. Personalentwicklungsabteilungen der Universitäten allein leisten können. Hier müssen Betreuende und Vorgesetzte, Hochschullehrer:innen und Postdocs, die bereits in einer späteren Phase sind, eine zentrale Rolle spielen (bspw. im Rahmen eines Thesis Advisory Committees). Es wird – gemäß einem bekannten nigerianischen Sprichwort – ein ganzes Dorf benötigt.
Die Entscheidung, nach der Promotion im universitären Bereich oder einem Forschungsinstitut zu bleiben, trifft trotz aller Beratung jede/r eigenverantwortlich. Da wir eine hohe Anzahl an internationalen Promovierenden haben, verlassen einige unserer Absolvent:innen nach der Promotion Deutschland und nehmen Stellen in ihren Heimatländern an. Aber viele entscheiden sich trotz der bekannt unsicheren Arbeitsbedingungen an deutschen Hochschulen und Forschungseinrichtungen für einen Verbleib in der Wissenschaft.
Exit, Voice and Loyality
Mit Blick auf die Zahlen mag es vielleicht als Irrsinn erscheinen, sich auf das Wagnis „Wissenschaft als Beruf“ einzulassen, kann aber auch als überlegtes, wenn auch riskantes Kalkül aufgefasst werden, bei dem nicht zuletzt auf den Weber’schen Faktor Zufall gesetzt wird: An Universitäten in Deutschland nehmen ca. 14 Prozent eines Jahrgangs nach einem Masterabschluss in den Geistes- und Sozialwissenschaften eine Promotion auf, ca. 9 Prozent von diesen schließen wiederum ihre Postdoc-Phase mit einer Habilitation ab und aus dieser Gruppe erhalten ca. 40 Prozent eine Professur.
Laut Zielvereinbarung mit dem Sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft, Kultur und Tourismus (SMWK) strebt die Universität Leipzig „einen Anteil der unbefristeten wissenschaftlichen und künstlerischen Mitarbeiter (§ 71 SächsHSFG) an der Gesamtzahl der wissenschaftlichen und künstlerischen Mitarbeiter, welche aus dem Stellenplan und aus sonstigen Haushaltsmitteln finanziert werden – ohne Medizinische Fakultät, bis zum Ende der Zielvereinbarungsperiode von 33% an.“ Weiterhin ist die Zielmarke der abgeschlossenen Promotionen (ohne Promotionen an der Medizinischen Fakultät) im selben Zeitraum 1.200. Das entspricht 400 abgeschlossene Promotionen pro Jahr.
Bis 2024 verspricht die Graduate School Global and Area Studies (GSGAS) in ihrer Zielvereinbarung mit dem Rektorat mindestens 25 abgeschlossene Promotionen pro Jahr. 25 sogenannte Nachwuchswissenschaftler:innen, die vor der Entscheidung stehen, ihren Weg weiter in der Wissenschaft zu gehen oder die Exit-Option zu wählen und außerhalb der Universität nicht mehr als Nachwuchs, sondern als hochausgebildete Spezialist:innen in den unterschiedlichsten wissenschaftsbasierten Berufen zu gelten.
Die GSGAS bildet trotz aller Qualifikationsangebote mit ihrem Curriculum für die Wissenschaft aus und befördert mit ihren interdisziplinären Ausbildungsformaten die Kompetenzen, die für eine Karriere in der Wissenschaft – ja, auch zur Erreichung einer Lebenszeitprofessur – erforderlich sind: Eigene Lehrveranstaltungen, Publikationen, Vorträge bei internationalen Konferenzen, aber auch organisatorische Fähigkeiten und das Engagement in der Selbstverwaltung zählen als Leistungen und können durch eine Benotung ins Gesamtprädikat der Dissertation eingehen. Durch Arbeitsgruppen, Kolloquium, Sommerschulen und Winterklausuren trainieren wir unsere Mitglieder, sich mit Arbeiten und Ansätzen auch aus Nachbardisziplinen auseinanderzusetzen und die Verantwortung zu übernehmen, den Kolleginnen und Kollegen mit Kommentaren auf der peer-Ebene beratend zur Seite zu stehen.
Die Postdocs in der GSGAS und im damit verbundenen Forschungszentrum Globale Dynamiken (ReCentGlobe) bieten sich dabei den Doktorand:innen als role model an. Sie übernehmen Betreuungsaufgaben, bilden aus, indem sie Forschungsseminare entwerfen und durchführen, sie engagieren sich in Gremien, werben Drittmittelprojekte ein, organisieren Workshops und Konferenzen, netzwerken für ihre Einrichtungen national und international, sie sind Mentor:innen für Promovierende, Betreuer:innen für Masterstudierende. Sie sind innovativ und sie sind für jene, die sich noch tatsächlich in der Qualifikationsphase befinden, inspirierend und zeigen, was möglich ist und wo die Messlatte hängt. Alles oben Genannte können Postdocs, weil sie nicht nur intrinsisch hoch motiviert, sondern auch ausgebildet sind und nach wenigen Jahren als Postdoc alle Fähigkeiten erworben haben, die für innovative Forschung und Lehre notwendig sind. Universitäten und Forschungseinrichtungen wären ohne diese Menschen vermutlich eine lahme, langweilige und laue Angelegenheit.
Die GSGAS hat auf Initiative einiger Postdocs beschlossen, mit einem speziellen Programm ein Zeichen zu setzen, um diese nach Außen (also bei Bewerbungen um eine Professur) häufig nur ungenügend sichtbare Arbeit klar erkennbar zu machen. Das 2019 gegründete Postdoc-Zertifikat-Programm unterscheidet sich von anderen Programmen für Postdocs, indem es nicht nur weitere Workshops zur Qualifikation (häufig für Berufsfelder außerhalb der Wissenschaft) oder Mentorings anbietet, sondern in sieben Kompetenzbereichen mittels eines Zertifikats bestätigt, was die tägliche Praxis der Postdocs an der GSGAS und ReCentGlobe ausmacht. Neben der offensichtlichen Leistung in der Lehre und Betreuung, initiieren und beteiligen sich Postdocs an vielfältigen grenzüberschreitenden Forschungskooperationen, sie leiten Teams, sie werben Drittmittel ein und kommunizieren ihre Forschungsergebnisse erfolgreich an die Öffentlichkeit.
Die Wissenschaftler:innen, die sich bei #IchBinHanna zu Wort melden, fordern nicht, alle Promovierenden und Postdocs an deutschen Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen zu entfristen. Sie fordert einen fairen Umgang, die Anerkennung und Wertschätzung ihrer Arbeit und Leistungen und dass das Verhältnis von Be- und Entfristungen so gestaltet wird, dass nicht der Eindruck erweckt wird, nach 12 Jahren seien Postdocs nur noch eine Innovationsbremse für den wissenschaftlichen Fortschritt. Kontinuität oder eine Kontinuitätsperspektive muss möglich sein. Und aus der Sicht des Wissenschaftssystems muss eine Stabilität im Personal unterhalb der Professur möglich sein und Lehr- und Forschungserfahrungen sollte als Währung für die Hochschulen gelten.
Die Fixierung auf genau ein Dutzend Jahre, die man im Staatsdienst Wissenschaft betreiben dürfe, war einmal als Signal gemeint, um Promovierende rechtzeitig auf die Endlichkeit einer Kettenbefristung aufmerksam zu machen und zum Nachdenken über Alternativen anzuregen. Vielleicht wollten die Initiator:innen einst auch einfach nur die Konkurrenzsituation unter den Bewerber:innen auf eine Professur entschärfen. Was auch immer die Intention war, sie ist inzwischen von einem immer rasanter wachsenden Wissenschaftssystem mit seinen vielen Projektstrukturen überholt worden. Die 12-Jahres-Regel wird nicht zuletzt deshalb als eine zynische Absage an das Leistungsversprechen in der Wissenschaft verstanden, gegen die sich nun der Protest richtet.
Im Frühjahr 2022 werden voraussichtlich die Ergebnisse einer Evaluation des WissZeitVG, die am 1. Januar 2020 begann (Laufzeit 2 Jahre), vorliegen – im Übrigen keine Reaktion auf #IchBinHanna, sondern bereits bei der Gesetzesänderung im Jahr 2016 so festgelegt. Hoffen wir, dass die neue Bundesregierung ausreichend Innovationskraft besitzt, um aus den Evaluierungsergebnissen das Beste für die wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen und Universitäten zu machen und dass sie dabei die Argumente der Hanna-Bewegung in den Blick nimmt, aber auch die Veränderungen im Wissenschaftssystem mitbedenkt, die nach mehr als einem Dutzend Jahren eingetreten sind.