Nachricht vom

Fast ein Drittel der Deutschen glauben an Verschwörungstheorien. ReCentGlobe-Mitglied und Soziologe Alexander Yendell geht diesem Befund in seinem Blog-Beitrag nach. Er erklärt mit Methoden der Autoritarismusforschung, wo die Wurzeln des Verschwörungsdenkens zu suchen sind, skizziert ihre soziale Funktion, die gerade in Krisenzeiten zum Vorschein kommt, und zeigt schließlich auch Ansätze zur Prävention und Konfrontation auf.

Eine der bekanntesten Verschwörungstheorien ist die QAnon-These, die davon ausgeht, dass eine weltweite satanistische Elite Kinder entführt, sie gefangen hält und quält, nur um aus ihrem Blut eine Verjüngungskur zu gewinnen. Die These knüpft an die Pizzagate-These an, wonach Politiker:innen der Demokraten angeblich einen Kinderhändlerring betreiben und Minderjährige zur Prostitution zwängen. Mehrere Millionen Menschen in den USA glauben an solche Thesen, dabei ist der Anteil unter den Wählern der Republikaner und insbesondere unter den Trump-Anhängern besonders hoch. Die Corona-Krise hat weitere absurde Theorien hervorgebracht: Bill Gates habe das Virus entwickeln lassen, um mit Impfstoffen Geld zu verdienen und den Menschen Mikrochips einzupflanzen, das Virus sei entwickelt worden, um eine autoritäre Weltordnung zu errichten oder um die Gefahren der neuen 5G-Technologie zu vertuschen.

Glaube an Verschwörungen weit verbreitet

Auch hierzulande ist der Glaube an Verschwörungstheorien weit verbreitet wie beispielsweise die Leipziger Autoritarismusstudie 2020 belegt: Demnach stimmen 30 Prozent der Bevölkerung Deutschlands dieser Aussage zu: „Die meisten Menschen erkennen nicht, in welchem Ausmaß unser Leben durch Verschwörungen bestimmt wird, die im Geheimen ausgeheckt werden“. Etwas mehr als ein Drittel (38 Prozent) glaubt an „geheime Organisationen, die großen Einfluss auf politische Entscheidungen haben“ und genau ein Drittel der Befragten stimmt der Aussage zu, „Politiker und Führungspersönlichkeiten sind nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte“. Vergleicht man den Anteil derjenigen, die besonders hohe Zustimmungswerte in Bezug auf diese drei Aussagen haben, so zeigt sich, dass dieser Anteil der Bevölkerung im Vergleich zu 2018 zugenommen hat und das besonders stark im Osten Deutschlands, wo 51 Prozent der Befragten eine sogenannte „Verschwörungsmentalität“ aufweisen (im Westen beträgt der Anteil 38 Prozent). Das zentrale Merkmal einer solchen Verschwörungsmentalität ist der Glaube an ein planvolles und koordiniertes Handeln von rational kalkulierenden Personen, die meist in böser Ansicht und im Geheimen die Gesellschaft bis in die kleinsten Einheiten steuern und die sich bekämpfen lassen. Besonders gefährlich für die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist, dass die Verschwörungsmentalität in Zusammenhang mit der Unzufriedenheit mit der Demokratie und deren Ablehnung, mit Rechtsextremismus, Antisemitismus, Muslimfeindlichkeit und der Wahl der AfD steht.

Die Psychodynamik von Verschwörungsglauben

Aber was treibt eigentlich Menschen dazu, an solch einen Irrsinn zu glauben?

Für den Amerikanisten Michael Butter sind Verschwörungstheorien ein Mittel gegen Verunsicherung. Sie sortieren die Welt in Gut und Böse, reduzieren damit die Komplexität, schaffen Orientierung durch vereinfachte Erklärungen und benennen einen Schuldigen. In ihren Augen geschieht nichts mehr einfach nur durch Zufall. Gerade in Krisenzeiten haben Verschwörungstheorien Hochkonjunktur, da sie ein Mittel sind mit den Ängsten und Verunsicherungen umzugehen. Massenpsychologisch betrachtet können ganze soziale Gruppen und Gesellschaften regredieren, d.h., dass Gesellschaftsmitglieder der Angst nicht mehr rational begegnen, sondern versuchen, sie mit Unreife und psychischer Dysfunktionalität zu bewältigen. Die Frage allerdings bleibt, warum einige Menschen anfällig für den Glauben an Verschwörungstheorien sind und andere nicht. Da sozioökonomische Faktoren nachweislich wenig Erklärungspotential bieten, liegt es nahe, die Persönlichkeit in den Blick zu nehmen.

In diesem Zusammenhang bietet die an die Psychoanalyse Sigmund Freuds anknüpfende Autoritarismusforschung einen Ansatz zur Erklärung. Sie ging davon aus, dass unbewusste Konflikte, die ihren Ursprung in der Kindheit hatten, neben seelischen Unbehagen auch (politische) Einstellungen und Verhaltensweisen erklären konnten. Die Autoritarismusforscher:innen mit ihrem bekanntesten Vertreter Theodor Adorno interessierten sich für die irrationalen psychologischen Mechanismen und „verborgene Züge der Charakterstruktur“. Dabei entdeckte Adorno neun Charakterstrukturen, die Teil einer „Ich-Schwäche“ der autoritären Persönlichkeit sind. Eine dieser Dimensionen ist die Projektivität, die aus Sicht der jüngeren Leipziger Autoritarismusforschung auch zentral für die Verschwörungsmentalität ist. Diese Dimension knüpft an den von Sigmund Freud beschriebenen Abwehrmechanismus der Projektion, bei dem vor dem Hintergrund innerpsychischer Konflikte eigene, unerwünschte Motive, Impulse, Affekte und Wünsche auf die Außenwelt beispielsweise auf andere Menschen oder Menschengruppen übertragen werden. In der Welt eines Verschwörungstheoretikers, so die Autoren der aktuellen Leipziger Autoritarismusstudie, soll „das Realitätsprinzip nicht mehr gelten“ und die Welt sich „an den eigenen Bedürfnissen anpassen“.

Der Psychoanalytikers Jürgen Körner unterscheidet in Bezug auf die Verschwörungsmentalität zwischen zwei Polen: Menschen, die eher passiv ihr Schicksal akzeptieren und das Erlebte als Zufall oder Pech erleben und nicht zu Verschwörungstheorien neigen, bilden den ersten Pol. Auf dem entgegengesetzten Pol befänden sich handlungsbereite Personen, die oftmals aus innerpsychischen Gründen und nicht selten vor dem Hintergrund einer psychischen Erkrankung proaktiv nach den Verursachern von Ereignissen suchen, um sich über diese zu empören und ihnen möglicherweise sogar aggressiv entgegenzutreten.  Die meisten Menschen befänden sich Körner zufolge zwischen diesen Polen und neigen nicht zu Verschwörungstheorien. Bei belastenden und schwer erklärbaren Ereignissen wie dem Attentat auf John F. Kennedy, dem Angriff auf das World Trade Center und jüngst die Corona-Pandemie können allerdings auch diese – zwischen den Polen befindlichen Personen – zu Verschwörungstheorien tendieren. Für den politischen und sozialpädagogischen Umgang sei dieses Kontinuum zwischen den beiden Polen (passive Akzeptanz des Schicksals vs. proaktive Menschen, die Feindbilder suchen) sehr bedeutsam.

 

Vor allem die Prävention ist wichtig

Aber was bedeutet dies konkret für den Umgang mit den Verschwörungstheorien und deren Anhänger? Hier muss man zwischen der Intervention und der Prävention unterscheiden.

Es gilt konsequent die Logik von Verschwörungstheorie und die Glaubwürdigkeit, ihrer Quellen in Frage zu stellen. Verschwörungstheorien müssen Fakten entgegengestellt werden. Im persönlichen Umgang mit Verschwörungsgläubigen sollte ein Dialog auf Augenhöhe hergestellt werden. Ein weiteres Ziel ist es, zu hinterfragen, welche aktuellen Lebensumstände, Ängste und Motive hinter dem Glauben an Verschwörungen stecken. Wenn eine gefestigte Verschwörungsmentalität sich allerdings in Aggressionen äußert, hilft oftmals lediglich, eine konsequente Setzung von Grenzen, um dem Gegenüber zu verdeutlichen, dass das Verhalten nicht akzeptabel ist und möglicherweise sanktioniert werden muss.

Besser jedoch ist es, potentiellem Verschwörungsglauben präventiv entgegenzuwirken. Neben der Aufklärung über Verschwörungstheorien und der Förderung von Medienkompetenz erscheint es besonders wichtig, die psychische Widerstandsfähigkeit bzw. die psyschische Resilienz der Menschen zu fördern, die sich bereits in frühester Kindheit entwickelt. Dazu gehört unter anderem die frühkindliche Förderung, die psychosoziale Beratung von Familien in Krisensituationen, die Bekämpfung von Armut, Empathietrainings, Anti-Stigma-Arbeit und natürlich eine funktionierendes Bildungssystem. Es geht vor allem darum, dass Menschen in einem sicheren Umfeld aufwachsen, und dort möglichst wenig Angst viel Vertrauen und Empathie entwickeln können. Für den Erhalt der Demokratie und des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist dies fundamental. Zum anderen gilt es, neben der Berücksichtigung emotionaler Faktoren, auch rationales Denken und wissenschaftliche Erkenntnis in der Gesellschaft zu fördern. Es erscheint gerade in diesem Kontext paradox, dass ohne jeden wissenschaftlichen Nachweis über deren Wirksamkeit, Homöopathie beispielsweise toleriert oder gar gefördert wird, während andererseits große Empörung über die Irrationalität von Verschwörungsgläubigen herrscht.

 

Alexander Yendell hat mit der Psychotherapeutin und Politikwissenschaftlerin Angelika Ebrecht-Laermann sowie Giulia Silberberger, der Gründerin und Geschäftsführerin von „Der goldene Aluhut“, über die Frage, wie Verschwörungstheorien den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedrohen diskutiert. 

ZUR VIDEOAUFZEICHNUNG

 

Literatur:

Adorno, Theodor W.; Frenkel-Brunswik, Else; Levinson, Daniel J.; Sanford, R. Nevitt (1950): The Authoritarian Personality. New York: Harper und Brothers.

Butter, Michael (2018): "Nichts ist, wie es scheint". Über Verschwörungstheorien. Originalausgabe. Berlin: Suhrkamp (Edition Suhrkamp Sonderdruck).

Decker, Oliver; Schuler, Julia; Yendell, Alexander; Schließler, Clara; Brähler, Elmar (2020): Das autoritäre Syndrom: Dimensionen und Verbreitung der Demokratie-Feindlichkeit. In: Oliver Decker und Elmar Brähler (Hg.): Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments - neue Radikalität : Leipziger Autoritarismus Studie 2020. Gießen: Psychosozial-Verlag (Forschung psychosozial), S. 179-209.

Körner, Jürgen (2020): Über Verschwörungstheorien und ihre Anhänger. In: Forum der Psychoanalyse 36 (4), S. 383–401. DOI: 10.1007/s00451-020-00405-6.

Pickel, Gert; Yendell, Alexander (2020): Zersetzungspotenziale einer demokratischen politischen Kultur: Verschwörungstheorien und erodierender gesellschaftlicher Zusammenhalt? In: Oliver Decker und Elmar Brähler (Hg.): Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments - neue Radikalität : Leipziger Autoritarismus Studie 2020. Gießen: Psychosozial-Verlag (Forschung psychosozial), S. 89–118.