Herr Decker, am 9. Juli wurde der Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2019 von Bundesinnenminister Horst Seehofer und Behördenleiter Thomas Haldenwang der Öffentlichkeit vorgestellt. Der Bericht deckt das erste komplette Dienstjahr von Haldenwang ab. Wie hat sich das Bundesamt für Verfassungsschutz seit dem Personalwechsel verändert?
Es ist tatsächlich offensichtlich, dass es eine deutliche Veränderung an der Spitze des Verfassungsschutzes gegeben hat und auch Innenminister Seehofer scheint fast eine Drehung um 180 Grad hingelegt zu haben. Nachdem er Migration als „die Mutter aller Probleme“ bezeichnete, scheint er nun doch den Rechtsextremismus in Deutschland als größte Gefahr für die Demokratie erfasst zu haben.
Man merkt auch dem Bericht selbst diesen großen Sprung an. Ich würde vermuten, dass es im Jahr 2019 einige Erweckungsmomente für konservative Politiker*innen gab, ähnlich wie die Ausschreitungen von Chemnitz im August 2018 sächsische Politiker*innen aufgeschreckt haben. Viele haben da zum ersten Mal registriert, wie gut organisiert und wie gewaltbereit die extreme Rechte ist. Im Jahr 2019 wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke ermordet, im November war der Anschlag in Halle. Beide Male waren die Täter rechtsextrem. Da scheinen viele erstmals verstanden zu haben, dass das am Rand keine konservativen Kräfte sind, sondern Rechtsextreme, die den demokratischen Staat stark ablehnen und zu massiver Gewalt bereit sind.
Legt der Bericht also einen größeren Fokus auf das Thema Rechtsextremismus als frühere Berichte?
Man sieht dem Bericht an, dass ein Lernprozess stattgefunden hat. Für Maaßen war der Salafismus die größte Bedrohung der Demokratie in Deutschland, Haldenwang lenkt den Fokus auf Rechtsextremismus. Immerhin, die Realität wurde nachvollzogen. Dennoch gibt es Unstimmigkeiten. In der Psychologie kennen wir die Theorie der Reduktion der kognitiven Dissonanz. Ich will mal ein Beispiel nennen: Menschen wissen, dass Rauchen schädlich ist und sagen, sie wollen mit dem Rauchen aufhören, tun es aber nicht. Damit müssen sie irgendwie umgehen. Ich weiß nicht, wie Herr Seehofer mit seiner kognitiven Dissonanz umgeht, aber es fällt ins Auge, dass er im Vorwort dezidiert von Mord an Walter Lübcke spricht und von den beiden Morden von Halle. Diese Taten werden von ihm als rechtsextrem gekennzeichnet. Trotzdem werden für das Jahr 2019 unter den rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten nur zwei Tötungsdelikte aufgeführt, nicht drei. Hier passt also etwas nicht zusammen und das kennzeichnet eines von vielen Grundproblemen der Dokumentation des Verfassungsschutzberichts. Ein anderes ist das sehr intransparente Zustandekommen der Zahlen. Sehen wir uns zum Beispiel an, wie viele Gewalttaten mit rechtsextremistischem Hintergrund im Bundesverfassungsschutzbericht für das Bundesland Sachsen aufgezählt werden: Für das Jahr 2019 werden 66 rechtsextremistisch motivierte Straftaten verzeichnet, während die sächsische Opferberatung nach demselben Klassifikationsschema des Bundeskriminalamts 226 Angriffe aufführt. Da ist der Lernprozess meiner Meinung noch lang um zu dokumentieren, wie groß die Gefahr für die Bevölkerung in Deutschland ist. Die Gruppen, die gefährdet sind, sind aber offenbar kein Thema für den Innenminister. Da gibt es noch einiges zu tun.
Haldenwang bezeichnete in der Pressekonferenz zur Vorstellung des Berichts die Neue Rechte als „Wegbereiter“ des Hasses. Auch das klingt anders als bei seinem Vorgänger. Ist dieser neue Fokus Teil des Lernprozesses, den Sie beschrieben haben?
Man darf sich an dieser Stelle fragen, was an dieser Neuen Rechten eigentlich neu ist. Die Mitglieder von Gruppierungen wie der Identitären Bewegung sind vielleicht jünger, aber die Inhalte, Ziele und Methoden unterscheiden sich im Grunde genommen nicht von den vorherigen Generationen. Viele Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen sagen seit Jahren, dass es Brücken zwischen der extremen Rechten und den konservativ-nationalistischen Milieus gibt. Was wir in den letzten Jahren sehen, ist, dass diese Milieus sich neu codieren. Und diese Codierungen werden jetzt auch von behördlicher Seite verstanden. Wir wissen aus der historischen Forschung, dass Antifeminismus und Antisemitismus bereits im wilhelminischen Kaiserreich Erkennungszeichen verschiedener rechter Milieus waren. Damit haben sie sich untereinander als ihresgleichen identifizieren können. Und ich befürchte, dass sich innerhalb einer neu formierenden extremen Rechten solche Codierungen wieder neu herausschälen. Antisemitismus wird in Abgrenzung zur pluralen Gesellschaft wieder zum Erkennungsmerkmal. Vielleicht hat Haldenwang auch daran gedacht, als er das sagte. Auch ich sehe da eine große Gefahr und würde ihm bei seiner Einschätzung zustimmen.
Erstmals wurde die Partei Alternative für Deutschland samt ihrer Jugendorganisation Junge Alternative und dem informellen Flügel im Bereich Rechtsextremismus/-terrorismus des Berichts erwähnt. Rechte Parteien wie die NPD werden schon seit Jahren im Verfassungsschutzbericht aufgeführt. Stellt die Erwähnung der AfD trotzdem ein Novum dar?
Ja, das ist ein großer Unterschied. Parteien spielen eine Sonderrolle in unserem politischen Gefüge, sie genießen Privilegien. Vor allem Parteien, die wie die AfD im Bundestag vertreten sind. Wenn die Exekutive beginnt, mit geheimdienstlichen Mitteln eine Partei zu beobachten, ist das eine sehr heikle Sache. Man könnte auch sagen, wenn das notwendig ist, ist vorher sehr viel schief gegangen. Im Grunde genommen, ist das das Ende der demokratischen Aushandlungsprozesse.
Man muss aber auch dazu sagen, dass nicht die AfD als Ganzes unter Beobachtung steht, sondern eben der sogenannte Flügel und die Jugendorganisation Junge Alternative. Das stellt einen Kompromiss dar. Den Flügel gibt so ja gar nicht, es handelt sich um eine informelle Struktur. Insofern konnte er sich entgegen seiner Ankündigung also auch nicht auflösen. Die Personen verbleiben in der Partei und nehmen Führungspositionen ein. Aber die Beobachtung ist dennoch ein deutliches Signal. Von Seiten des Innenministeriums ist es vielleicht auch der Hinweis an Parteimitglieder sich zu überlegen, ob sie hier weiter aktiv sein wollen. Das scheint auch angekommen zu sein, man hörte beispielsweise von Parteiaustritten von Polizeibeamten. Wir werden auf die Dauer auch als Zivilgesellschaft nicht darum herumkommen, die Partei als antidemokratisch, rassistisch und antisemitisch zu klassifizieren. Für Menschen, die sich als bürgerlich-demokratisch verstehen, ist eine Mitgliedschaft in der AfD auf Dauer keine Option.
Herr Decker, vielen Dank für das Interview.