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Der angekündigte Austritt der USA aus dem Vertrag über den Offenen Himmel belastet die europäische Sicherheitsarchitektur. Die europäischen Optionen, darauf zu reagieren, sind begrenzt.
Der Frankfurter Politikwissenschaftler Dr. Niklas Schörnig ist in dieser Woche Gastautor des ReCentGlobe Blogs.

In den letzten Jahren des Ost-West Konfliktes und der unmittelbaren Zeit nach seinem Ende schien es so, als sei es Europa auf besondere Weise gelungen, konventionelle Rüstung durch eine weltweit einmalige Sicherheitsarchitektur zu kontrollieren. Die drei Säulen, auf denen diese Sicherheits­architektur ruht, waren 1) der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE), 2) das Wiener Dokument (WD) und 3) der Vertrag über den offenen Himmel, oft auch als Open Skies Treaty, kurz OST oder OS, bezeichnet. Während der KSE-Vertrag Obergrenzen für zentrale Kategorien von Waffensystemen in Gänze und in bestimmten Regionen festlegt, sind das Wiener Dokument und der OS-Vertrag klassische Transparenzinstrumente mit dem Ziel, Vertrauen und Sicherheit durch überprüfbare Information zu schaffen. Nachdem aber die Umsetzung des KSE-Vertrags 2007 durch Russland ausgesetzt wurde und die Umsetzung des Wiener Dokuments durch verschiedene Streitigkeiten ebenfalls stockte, schien zumindest noch der 1992 unterzeichnete und 2002 in Kraft getretene Vertrag über den offenen Himmel Ausdruck und Garant europäischer Rüstungskontrollinteressen. Allerdings erklärten die USA im Mai 2020, zum November 2020 aus dem Open Skies-Vertrag auszutreten. Zwar kam dieser Schritt nicht überraschend, da sich schon seit Ende 2019 entsprechende Gerüchte hartnäckig hielten, aber gerade in Westeuropa hatte man die Hoffnung nicht aufgegeben, den Verbündeten noch von diesem drastischen Schritt abbringen zu können. Damit wankt nun aber auch die dritte Säule der konventionellen europäischen Sicherheitsarchitektur.

Um die Bedeutung dieses präzedenzlosen, amerikanischen Schrittes nachvollziehen zu können, muss man zunächst einen Blick auf die Ziele und Leistungen des Vertrages werfen.

Dem Open Skies Treaty gehören (noch) 34 Staaten an und sein Anwendungsgebiet reicht von „Vancouver bis Wladiwostok“. Um seine Ziele der Transparenz und Vertrauensbildung umzusetzen, erlaubt der Open Skies-Vertrag allen Teilnehmerstaaten eine anhand nationaler Quoten festgelegte Anzahl von Überflügen über die anderen Mitglieds-Staaten. Jedes Land hat im Gegenzug auch eine bestimmte Anzahl von Überflügen zu akzeptieren. Bei diesen Überflügen, bei denen Vertreter:innen des inspizierenden, aber auch des inspizierten Landes teilnehmen, dürfen Fotos und Videos mit speziell zertifizierten Kameras gemacht werden, die sicherstellen, dass bei einer bestimmten Flughöhe die Auflösung der Fotos vorher festgelegte Werte nicht überschreitet. Dabei reicht die erlaubte Auflösung, um z.B. Truppenkonzentrationen an einer bestimmten Stelle eindeutig zu identifizieren, gleichzeitig ist sie aber zu niedrig, um an militärische Geheimnisse zu gelangen. Denn, und das ist die Besonderheit des Open Skies-Vertrags: Es ist kein Gebiet eines Mitgliedsstaates ausgenommen. Es darf über jede Militärbasis, jedes Verwaltungsgebäude und jedes sonstige Sperrgebiet geflogen werden. Einzig an der Grenze zu Nichtmitgliedern ist ein Mindestabstand von 10 Kilometern einzuhalten. Den OS-Flugzeugen, die von einigen der Mitgliedsstaaten zu diesem Zweck vorgehalten werden, ist im Flugverkehr Vorrang einzuräumen. Allerdings gelten bei den Inspektionsflügen neben der spezifischen Flughöhe noch andere Regeln: So dürfen Fotos nur nach dem Start von einem inländischen Flughafen auf einer vorher anzugebenden Route gemacht werden. Zwischenlandungen sind nur auf festgelegten Flughäfen erlaubt. Beim Einflug ins oder beim Ausflug aus dem Land sind die Kameras abzudecken. Die im Rahmen eines Inspektionsfluges gemachten Fotos gelten als authentisch und werden allen OS-Mitgliedern zur Verfügung gestellt. Manchmal schließen sich auch Staatengruppen zusammen, um einen gemeinsamen Inspektionsflug zu organisieren.

Für Militärs sind solche Flüge oft von erheblicher Bedeutung. Da die Flüge auch kurzfristig angemeldet werden können (72 Stunden Vorlauf) und in kurzer Zeit durch das inspizierte Land zu genehmigen und zu organisieren sind, können so z.B. Gerüchte über grenznahe Truppenkonzentrationen – die auf einen bevorstehenden Überraschungsangriff deuten könnten – inspiziert werden. Auch lassen sich z.B. die Größe und der Ausbau einer Militärbasis überprüfen. Dies gibt Militärbeobachtern oft ein sehr genaues Bild über den Aktivierungszustand der Streitkräfte eines Landes und trägt so durch Transparenz zur Stabilität bei. Gleichzeitig wird auch das Vertrauen gestärkt. Sowohl auf der inter­nationalen Ebene, wenn sich z.B. Angaben eines Staates durch einen Überflug bestätigen lassen, als auch auf der persönlichen, da die mit der Umsetzung des OS-Vertrages beauftragten Inspekteur:innen meist immer wieder aufeinander treffen und so persönliche Beziehungen aufbauen.

Deutschland misst dem Open Skies-Vertrag eine erhebliche Bedeutung bei und hat jüngst ein eigenes neues Flugzeug dafür in den Dienst gestellt.

Allerdings gab und gibt es auch immer wieder Reibereien um Vertragsauslegung und -anwendung, die sich aber nicht immer direkt aus dem Vertrag ergeben. Ein Punkt, an dem sich in den vergangenen Jahren Diskussionen entzündeten, ist der Umgang mit der russischen „Oblast“ – dem Verwaltungs­bezirk – Kaliningrad, die abgetrennt vom restlichen russischen Gebiet an der Ostsee liegt. Russland schränkte die Überflüge über dieses Gebiet so ein, dass nicht das gesamte Gebiet mit einem Inspektionsflug überflogen werden kann und verweist auf Einschränkungen im zivilen Luftverkehr. Aus amerikanischer Sicht stellt dies einen schwerwiegenden Verstoß dar, zumal in der Oblast umfangreiche Truppen konzentriert sind. Europäer:innen erkennen durchaus einen Regelverstoß, messen ihm aber einen deutlich geringeren Stellenwert bei. Aber auch auf amerikanischer Seite gab es in der Vergangenheit Einschränkungen, die durchaus als Vertragsverstoß gewertet werden könnten.

Ein weiterer Streitpunkt hängt mit der unterschiedlichen Auffassung bei ungelösten Territorial­konflikten und nicht dem Vertrag selbst zusammen. So hat z.B. Russland die von Georgien abtrünnigen Teilrepubliken Abchasien und Südossetien als selbstständige Staaten anerkannt, während alle anderen Vertragsstaaten sie als Teil Georgiens ansehen. Russland genehmigt entsprechend keine Flüge, die näher als 10 Kilometer an das Gebiet heranführen, was wiederum zu scharfer Kritik der anderen Vertragsstaaten geführt hat. Auch wies Russland einen Flughafen zum Betanken auf die Krim aus. Westliche Staaten verweigern aber, die Krim bei Beobachtungsflügen über Russland einzubeziehen, um so gegen die illegale Besetzung der Halbinsel zu protestieren. Aber natürlich wurde der Vertrag auch zu gegenseitigen Provokationen genutzt, wovon z.B. ein russischer Überflug über das Weiße Haus oder über den Golfplatz des US-Präsidenten zeugt. Vertragswidrig sind solche Überflüge aber nicht und es gibt auch – meist aber nur hinter vorgehaltener Hand – Hinweise auf entsprechende Aktivitäten der USA.

Russland hingegen beklagt, dass ein Großteil aller Flüge über seinem Gebiet stattfände. Da sich NATO-Staaten nicht gegenseitig inspizieren, führen sie die ihnen zustehenden nationalen Flüge überwiegend über Russland durch. Kolleg:innen vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg haben die Frage „Wer fliegt wo?“ grafisch aufgearbeitet.

Obwohl viele dieser und auch weitere Probleme bekannt sind, waren sie für die europäischen Partner:innen bislang kein Anlass, den Open Skies-Vertrag an sich in Frage zu stellen. In den USA hat sich aber in den vergangenen Jahren – und schon vor der Präsidentschaft von Donald Trump – eine Kritik am Vertrag verdichtet, die bei aller versuchten Objektivität nur sehr schwer nachzuvollziehen ist. Denn die USA stellen die positiven Effekte des Vertrages generell in Frage.

Ein wichtiger Punkt ist hierbei, dass der Vertrag selbst keine konkreten Angaben zu den verwendeten Kameras macht. Russland war nun das erste Land, das vor einigen Jahren von analogem Film auf digitale Kameras umstellte. 2018 verweigerten die USA zunächst die Zertifizierung eines russischen Beobachtungsflugzeugs, um es schließlich dann doch zu zertifizieren. Trotz dieser Zertifizierung wurde im US-Diskurs immer wieder von „Spionageflugzeugen“ und „Spionage“ gesprochen und die neuen russischen Sensoren standen immer wieder in der Kritik. Auch ist vielen der Regierung Trump nahestehenden Personen nur schwer zu vermitteln, dass es bei den Überflugrechten keine Eingrenzung gibt. Substanzieller ist aber das Argument, der Vertrag sei veraltet und die gleichen Daten könnten mittels eigener Satelliten auch ohne das gegenseitige Einräumen von Überflugrechten gewonnen werden. Allerdings übersieht diese Argumentation, dass a) bestenfalls nur noch Russland über ein derart enges Satellitennetz verfügt, b) die Daten nur den USA zur Verfügung stehen würden und c) die individuelle Vertrauensbildung entfällt. Zwar haben die USA inoffiziell angeboten, entsprechende Bilder auch mit Verbündeten zu teilen, allerdings ist es gerade der Vorteil des Open Skies-Vertrages, dass die Bilder allen Teilnehmerstaaten zur Verfügung stehen und vorher als authentisch klassifiziert wurden. Eine Bildmanipulation ist bei den im Rahmen des Vertrages geteilten Bildern praktisch nicht möglich. Ob aber Russland Bilder amerikanischer Aufklärungssatelliten anerkennen würde, ist hingegen fraglich.

Interessanterweise gab es im Vorfeld der US-Entscheidung für einen Austritt aus dem Vertrag nicht nur von europäischer Seite scharfe Kritik, sondern auch in den USA selbst, speziell von akademischer Seite, aber auch von Seiten des Militärs und sogar von republikanischen Abgeordneten. Allerdings konnten sich die Stimmen für den Vertrag nicht durchsetzen.

Für die europäische Seite ist es nun von enormer Bedeutung, den Vertrag am Leben zu erhalten, will man nicht auch diese dritte Säule europäischer Sicherheitsarchitektur gefährden. Entsprechend wird viel daran gesetzt, Russland weiterhin im Vertrag zu halten, denn viele Beobachter:innen hatten befürchtet, dass Russland sich als Gegenmaßnahme ebenfalls aus dem Vertrag zurückziehen würde – zumal weiterhin NATO-Staaten über russisches Gebiet fliegen dürften (und von einer Weitergabe der gewonnenen Bilder an die USA durch zumindest einige Staaten gerechnet werden kann). Russland hingegen kann aber nicht mehr über US-Territorium fliegen. Ob sich Russland längerfristig mit dieser ungleichgewichtigen Situation abfinden wird, bleibt abzuwarten. Streit droht aber auch zwischen den Alliierten. Gemäß des Open Skies-Vertrages dürften deutsche Stellen einen russischen Überflug von US-Basen nicht verbieten – ebenso auch in anderen europäischen NATO-Staaten mit amerikanischer Truppenpräsenz. Ob die USA dies auch noch nach einem Ausstieg akzeptieren werden, ist unklar.

In Summe ist der US-Ausstieg aus dem Open Skies Treaty nur schwer nachvollziehbar, auch wenn zumindest einige der russischen Verstöße tatsächlich dem Text des Vertrags widersprechen – z.B. die Einschränkungen über Kaliningrad. Die europäischen Verbündeten wurden durch den US-Austritt vor den Kopf gestoßen. Der Schritt wird nur nachvollziehbar im breiteren Rahmen der generellen US-Ablehnung jeder Form von Rüstungskontrolle, dem Vertrauen auf die eigene technologische Überlegenheit und dem Streben, sich in der eigenen Machtgewinnung nicht durch internationale Absprachen einschränken zu lassen. Das ist eine kurzfristige Strategie. Aber auch Russland hat einen gewissen Anteil: Viele kleine Reibereien und unnötige Provokationen hielten den USA das Stöckchen hin, über das die Regierung Trump willig gesprungen ist. Alles was Europa nun tun kann, ist, den Vertrag weiter mit Leben zu erfüllen und so die Strukturen für bessere Zeiten intakt zu halten. Es muss auch alles daran gesetzt werden, Russland – trotz berechtigter, massiver Kritik in anderen Feldern – im Vertrag zu halten. Das Open Skies-Abkommen darf nicht noch weiter in die allgemeinen Spannungen hineingezogen werden. So könnten sich die Europäer:innen zumindest darauf verständigen, den USA keine im Rahmen von Open Skies gewonnenen Informationen weiterzugeben und dadurch ihre rüstungskontrollpolitische Eigenständigkeit demonstrieren. Ob dies aber von allen europäischen Partner:innen auch durchgehalten würde, steht noch einmal auf einem anderen Blatt.

 

Dr. Niklas Schörnig ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt am Main. Er arbeitet zu Themen moderner Kriegsführung, militärischer Robotik und konventioneller Rüstungskontrolle.  Man kann ihm auf Twitter folgen: @NiklasSchoernig