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Warum Religionsgemeinschaften zur „superspreader“ in der Corona-Epidemie wurden, beschreibt Professor Christoph Kleine. Er erklärt auch, welche Risiko-Faktoren dazu beitragen.
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Am ReCentGlobe arbeiten mehr als 200 Mitarbeiter*innen zusammen und untersuchen, ausgehend von einem handlungs- und akteurszentrierten Ansatz, Globalisierungsprojekte der Gegenwart und Vergangenheit. An dieser Stelle kommen jede Woche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Zentrums zu Wort, geben Einblicke in ihre Forschung und treten miteinander in eine Debatte.

Seit einigen Jahren ist wohl selbst hartgesottenen Anhängern der Säkularisierungstheorie klargeworden, dass Religion weiterhin (oder mehr denn je) ein vielfältig wirksamer Faktor in der globalen Moderne ist. Die globalen Dynamiken, die gerade die weniger domestizierten Formen der Religion in Gang setzen, sind nicht mehr zu übersehen. Mitunter wird insbesondere die weltweite Verbreitung salafistischer oder evangelikaler Ideen metaphorisch als eine Epidemie beschrieben. Seit ein paar Wochen wissen wir, dass Religionen auch in nicht-metaphorischer Weise epidemisch wirksam sein können. Religionsgemeinschaften gelten inzwischen als „superspreader“ der Corona-Epidemie.

In den deutschen Medien wird darüber erstaunlich wenig berichtet. Selbst diejenigen unter uns, deren Begeisterung für Fußball sich in überschaubaren Grenzen hält, wissen von jenem mutmaßlich schicksalshaften Achtelfinalhinspiel der Champions League zwischen Atalanta Bergamo und dem FC Valencia am 19. Februar. Dieses Spiel wurde schon frühzeitig mitverantwortlich gemacht für die rasante Verbreitung des Virus SARS-CoV-2 in Norditalien und Spanien. In Deutschland wurde eine Karnevals-Veranstaltung in Heinsberg als Infektionsherd identifiziert, ebenso Aprés-Ski-Hütten im österreichischen Ischgl.

Religiöse Veranstaltungen als „superspreader“ sind demgegenüber im öffentlichen Bewusstsein weniger präsent. Dabei wurde schon früh bekannt, dass der Ausbruch der Epidemie in Südkorea in engem Zusammenhang mit der Shincheonji Church of Jesus steht. Schon Anfang März hat die Stadtregierung der Hauptstadt Seoul die Staatsanwaltschaft gebeten, Lee Man-hee, den Gründer der Shincheonji-Kirche, und elf weitere Personen anzuklagen.[1] Bald wurde bekannt, dass die Kirche auch in Wuhan eine Niederlassung hat. Bis zum Bekanntwerden der ersten Erkrankungen in der koreanischen Gemeinde von Daegu feierte man gemeinsam mit der von Wuhan Gottesdienste.[2]

Ende Februar wurde die Befürchtung laut, achtzehn koreanische Christen, die nach ihrer Rückkehr von einer Pilgerreise zu den heiligen Stätten ihrer Religion positiv auf das Virus getestet worden waren, könnten die Pandemie nach Israel eingeschleppt haben.[3] Zweihundert Israelis, die Kontakt zu den Pilgern gehabt hatten, wurden unter Quarantäne gestellt.[4] Dennoch verbreitete sich das Virus vor allem in Jerusalem mit großer Geschwindigkeit, vor allem in den Wohnvierteln ultra-orthodoxer Juden, die zunächst nicht bereit waren, die von der Regierung verordneten Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie durch Kontaktbeschränkung einzuhalten. In der Folge war die Infektionsrate in Mea Shearim achtmal höher als im Rest des Landes.[5]

Doch wir müssen nicht in den Nahen oder Fernen Osten schauen, um religiöse Veranstaltungen als superspreader zu identifizieren. Am 31. März berichtete die israelische Tageszeitung Haaretz über „die fünf Tage in einer evangelischen Superkirche, die eine Zeitbombe in Europa gelegt haben“. Dabei geht es um eine Veranstaltung der Christian Open Door Church die am 18. Februar 2020 in Mulhouse, Frankreich, feierlich eröffnet worden war. Das Gebetstreffen soll den Auftakt für die bisher größte Ansammlung von Corona-Fällen in Frankreich gebildet haben. Rund 2.500 bestätigte Fälle stünden damit in Verbindung. Gläubige hätten das Virus unwissentlich nach Burkina Faso, Korsika, Guyana und die Schweiz gebracht. Für die Grenzschließung zwischen Deutschland und Frankreich soll der Kirchen-Cluster ein Schlüsselfaktor gewesen sein.[6]

Dass religiöse Veranstaltungen aus epidemiologischer Sicht riskant sind, wurde im Prinzip auch in Deutschland erkannt. Man erließ ein Gottesdienstverbot, was eine massive und historisch einmalige Einschränkung der positiven Religionsfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland bedeutete. In der öffentlichen Wahrnehmung wurde dabei aber lediglich das allgemeine Risiko einer Ansteckung an Orten diskutiert, an denen viele Menschen aufeinandertreffen. Ein Gottesdienst unterscheidet sich demzufolge in epidemiologischer Hinsicht nicht von einem Konzert oder einer Vorlesung. Die großen Kirchen haben das Verbot überwiegend klaglos akzeptiert, ebenso wie die meisten Moschee-Gemeinden und jüdischen Gemeinden. Spötter merkten an, dass die meisten Kirchen kaum Probleme haben sollten, den erforderlichen Mindestabstand zwischen den Gemeindemitgliedern einzuhalten, andererseits aber der weitaus größte Teil der Gottesdienstteilnehmer*innen aufgrund ihres Altes zur Risiko-Gruppe zählen.

Auffallend – wenn auch nicht überraschend – ist, dass besonders konservative Religionsvertreter das Verbot nicht ohne weiteres akzeptierten. Das gilt nicht nur für deutsche Christen wie den katholischen „Freundeskreis St. Philipp Neri“ in Berlin, der vor dem Verwaltungsgericht erfolglos gegen das Gottesdienstverbot wegen Corona geklagt hatte.[7]

Bemerkenswert waren insbesondere die Reaktionen vieler osteuropäischer Kirchen auf die Pandemie. Während der Pressedienst des Patriarchats der Rumänischen Orthodoxen Kirche den Gläubigen immerhin noch das Angebot machte, sie dürften es vorübergehend vermeiden, die Ikonen in der Kirche zu küssen, wies Patriarch Daniel in einem Hirtenbrief darauf hin, dass die heilige Eucharistie keine Quelle von Krankheit und Tod sein könne. Deshalb solle die Regel der Verteilung der heiligen Kommunion an den Klerus und die Gläubigen aus demselben Kelch unverändert eingehalten werden. Priester Maksim Koslov von der Russischen Orthodoxen Kirche betonte ebenfalls, dass bei der Kommunion kein Virus übertragen werden könne. Das sieht auch der Metropolit Neofit von Sofia, Patriarch der bulgarisch-orthodoxen Kirche, so. Er ließ verkünden, dass die Gottesdienste im Land trotz der Besorgnis über die Übertragung des Coronavirus fortgesetzt würden, da die heiligen Sakramente unmöglich eine Krankheit übertragen könnten. Erzpriester Mattias Palli von der Estnischen Apostolischen Orthodoxen Kirche kündigte immerhin an, die vielgeküssten Oberflächen in der Kirche sollten nun häufiger desinfiziert werden.[8]

Hierin zeigen sich schon die besonderen epidemiologischen Risiko-Faktoren bestimmter, besonders konservativer oder radikaler Ausprägungen von Religion.

Es sind mehrere Faktoren, die Religionen zu potenziellen Superverbreitern machen. Zum einen sind Religionen allem Gerede von der Privatisierung und Individualisierung zum Trotz eine Sache von Gemeinschaft. Sie leben nicht nur von der Interaktion zwischen Mensch und Gott, sondern vor allem von der Interaktion zwischen Mensch und Mensch (und Mensch und Ding, wenn man an die sehr physische Ikonen-Verehrung denkt). Das unterscheidet sie nun noch nicht von Orchester-Musik oder universitärer Lehre. Zwischen Musikern, Studierenden und Dozierenden auf der einen Seite und religiösen Akteuren mit sehr starken Überzeugungen auf der anderen gibt es aber einen gravierenden Unterschied: während erstere überwiegend wissenschaftlichen Erkenntnissen vertrauen, beanspruchen strenggläubige Menschen aller Religionen über andere, im Zweifel höhere Erkenntnisquellen zu verfügen. Besonders bei radikalen Evangelikalen, aber auch bei Orthodoxen Christen beobachten wir in der Corona-Krise ein auffallendes Verhaltensmuster: sie leugnen häufig die Gefahr einer Ansteckung während religiöser Veranstaltungen.

Wir erinnern uns in diesem Zusammenhang auch an die verstörenden Bilder aus Brasilien und den USA, wo evangelikale Pastoren weiterhin ihre Gottesdienste abhielten, bei denen sehr große körperliche Nähe Teil des Programms ist, als das Virus längst wütete. Der durch die oben genannten Fälle eindrucksvoll widerlegte Glaube an die Immunität der wahrhaft Gläubigen gegen Covid-19 ist nicht bloßer Naivität geschuldet, sondern einer bestimmten Auffassung bezüglich der Ursache und der Wirkung des Virus. Für viele evangelikale Christen – ebenso wie für nicht wenige Muslime[9] und Juden[10] – ist das Virus schlicht eine göttliche Strafe für begangene Sünden wie Homosexualität, Ungläubigkeit und dergleichen.[11] Die kenianische Online-Zeitung Standard Digital geht sogar davon aus, dass die große Mehrheit der Menschen sich darüber einig sei, die Pandemie sei eine Strafe Gottes.[12]

Während manche annehmen, Gott strafe die Menschheit unabhängig von individueller Schuld – Standard Digital  behauptet „God’s anger equalises humanity“ [13] –, gehen wohl die meisten davon aus, dass das Virus die Sünder und Ungläubigen, nicht aber die Rechtgläubigen und Gottgefälligen trifft. Am 15. März drängte Guillermo Maldonado, der sich selbst als „Apostel“ bezeichnet und Anfang des Jahres Gastgeber Trumps bei einer Wahlkampfveranstaltung in seiner Megakirche in Miami war, seine Kongressabgeordneten dazu, persönlich zu den Gottesdiensten zu erscheinen. Er stellte die rhetorische Frage: „Glauben Sie, dass Gott sein Volk in sein Haus bringen würde, um es mit dem Virus ansteckend zu machen? Natürlich nicht“.[14]

Nun gilt unter Christen allerdings gemeinhin als Konsens, dass kein Mensch ohne Sünde sei. Doch in einigen Gemeinschaften herrscht der Glaube, das sündenbedingte Rest-Risiko einer Ansteckung lasse sich durch Gebet und Reue wirksamer bekämpfen als durch social distancing oder einen Impfstoff.

So behauptete der amerikanische Fernsehprediger Kenneth Copeland schon vor einigen Wochen, dass die Pandemie viel früher vorbei sein werde, als von Virologen angenommen, weil christliche Menschen im ganzen Land sie durch ihre Gebete überwältigt hätten. In einer Predigt rief er den „Wind Gottes“ herbei, um das neuartige Coronavirus zu vernichten. Er vollstreckte das Urteil über Covid-19, das er für „beendet“ und „vorbei“ erklärte, die USA als „geheilt und wieder gesund“. Seine in Texas ansässige Megakirche behauptete zudem, dass die Zuschauer seiner Sendung durch Berühren des Bildschirms von dem Virus geheilt werden können.[15]

Sehr ähnliche Denk- und Verhaltensmuster lassen sich in den boomenden und stramm rechten evangelikalen Gemeinden Brasiliens feststellen. Der brasilianische Pastor Edir Macedo – Multimillionär, Besitzer einer großen Fernsehanstalt und Gründer der mächtigen Universal Church of the Kingdom of God (IURD), einem weltweiten Netzwerk evangelikaler Kirchen – bezeichnete etwa das Virus als Strategie Satans und behauptete, es sei machtlos gegen diejenigen, die keine Angst davor hätten.[16]

Es ist wichtig zu betonen, dass es sich bei den genannten Personen und ihre Kirchen nicht um bizarre Sondergemeinschaften ohne nennenswerten Einfluss handelt. Was die staats- und volksnahen orthodoxen Kirchen angeht, ist dies offensichtlich. Aber auch der Einfluss der evangelikalen Rechten in Nord- und Latein-Amerika ist immens und reicht weit in die Spitzen der Politik – Brasiliens Corona-Leugner befinden sich „in positions of power“.[17] Am 4. April berichtete Reuters, dass Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro angesichts der steigenden Zahl der Todesopfer im Land und der Kritik an seinem Umgang mit der Gesundheitskrise vor seinem Amtssitz mit evangelikalen Pastoren zusammentraf. Er stimmte der Bitte evangelikaler Christen zu und forderte einen nationalen Fasten- und Gebetstag, um Brasilien „von dieser bösen“ Coronavirus-Epidemie zu befreien.[18] US-Präsident Donald Trump, dessen Macht maßgeblich von den Wählerstimmen der weißen Evangelikalen abhängt, die um die 25 % der US-Bevölkerung ausmachen, hatte bereits am 14. März einen National Day of Prayer ausgerufen, um gegen das Virus anzubeten.[19]

So können radikale Religionsgemeinschaften in mehrfacher Hinsicht zur epidemiologischen Gefahr werden, nämlich indem sie bei ihren Veranstaltungen konkrete Infektionsketten in Gang setzen, indem sie ihre zahlreichen Mitglieder in dem Glauben lassen, sie seien immun und müssten sich nicht an die üblichen Vorsichtsmaßnahmen halten, und indem sie die Politik zum Beten statt zum wirksamen Handeln verleiten.

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[1] https://www.bbc.com/news/world-asia-51695649; vgl. https://nyti.ms/2IvU2DQ; https://edition.cnn.com/2020/02/26/asia/shincheonji-south-korea-hnk-intl/index.html.

[2] https://www.scmp.com/news/china/society/article/3064766/coronavirus-wuhan-shincheonji-member-says-church-followed.

[3] https://www.reuters.com/article/us-china-health-holyland/alarm-in-the-holy-land-after-visit-by-pilgrims-with-coronavirus-idUSKCN20G0OJ

[4] https://www.israelhayom.com/2020/02/23/coronavirus-some-200-israelis-ordered-into-isolation-after-contact-with-s-korean-pilgrims/

[5] https://www.france24.com/en/20200422-isolated-ultra-orthodox-jews-at-epicentre-of-jerusalem-s-coronavirus-outbreak

[6] https://www.haaretz.com/science-and-health/coronavirus-spread-europe-church-1.8723559.

[7] https://www.vaticannews.va/de/kirche/news/2020-04/corona-kirche-recht-deutschland.html.

[8] https://noek.info/nachrichten/osteuropa/13-russland/1461-osteuropa-kirchliche-reaktionen-auf-corona-epidemie.

[9] https://www.aljazeera.com/news/2020/03/punishment-muted-nowruz-afghanistan-coronavirus-200320143643578.html. In Saudi Arabien wurden dagegen vier Personen verhaftet, die verbreitet hatten, das Virus sei eine Strafe Gottes. https://english.alaraby.co.uk/english/news/2020/3/28/riyadh-arrests-four-over-claims-coronavirus-is-gods-punishment

[10] https://www.timesofisrael.com/israeli-rabbi-blames-coronavirus-outbreak-on-gay-pride-parades/.

[11] Siehe z.B. die Argumentation der „Lebensschützer“ von LifeSite: https://www.lifesitenews.com/news/yes-coronavirus-is-a-punishment-from-god-just-ask-a-repentant-sinner. Mitunter wird auch den Juden der Ausbruch der Pandemie angelastet, da sie Jesus als Messias ablehnten. https://www.timesofisrael.com/conservative-pastor-says-coronavirus-spread-in-synagogues-is-punishment-from-god/

[12] https://www.standardmedia.co.ke/article/2001366570/could-coronavirus-pandemic-be-god-s-punishment

[13] https://www.standardmedia.co.ke/article/2001366570/could-coronavirus-pandemic-be-god-s-punishment

[14] https://www.nytimes.com/2020/03/27/opinion/coronavirus-trump-evangelicals.html.

[15] https://www.independent.co.uk/news/world/americas/kenneth-copeland-blow-coronavirus-pray-sermon-trump-televangelist-a9448561.html.

[16] https://taz.de/Brasiliens-Evangelikale-und-Corona/!5675865/; siehe auch https://blickpunkt-lateinamerika.de/artikel/bolsonaro-laesst-kirchen-trotz-corona-pandemie-weiter-offen/.

[17] https://brazilian.report/power/2020/03/17/brazil-coronavirus-deniers-positions-power/

[18] https://www.reuters.com/article/us-health-coronavirus-brazil-bolsonaro/brazils-bolsonaro-turns-to-prayer-in-coronavirus-crisis-idUSKBN21L3DL ; siehe auch https://www.independent.co.uk/news/world/americas/coronavirus-jair-bolsonaro-brazil-prayer-fasting-day-evil-covid19-a9447406.html

[19] https://www.whitehouse.gov/presidential-actions/proclamation-national-day-prayer-americans-affected-coronavirus-pandemic-national-response-efforts/.