Sie haben für die Kurzstudie im Abschlussbericht der Kommission die These formuliert, dass die aktuell feststellbare Spaltung der deutschen Gesellschaft in eine „Ost-Identität“ und eine „West-Identität“ weniger das Resultat von objektiv messbaren Parametern als vielmehr von sozialen Konstruktionen ist, die in der Hauptsache erst nach der Wende von 1989/1990 eingesetzt haben. Wie kamen Sie auf diese These?
Als Soziologe, der in beiden Teilen Deutschlands lebt und arbeitet, habe ich auch den Blick auf die Gemeinsamkeiten von West- und Ostdeutschen und es fällt mir auf, dass diese immer noch viel zu selten thematisiert werden. Hingegen werden die Unterschiede in den Medien überhöht dargestellt. Das heißt natürlich nicht, dass der Einigungsprozess nur ein Erfolg war und es keine Missstände und Ungerechtigkeiten gibt, aber sozio-ökonomische und auch politisch-kulturelle Unterschiede können entlang anderer regionaler Linien teilweise viel deutlicher sein als zwischen Ost und West. Ein Beispiel. Ich komme aus Düsseldorf, eine wohlhabende Stadt mit einem enormen Wachstum und einer äußerst pluralen Stadtgesellschaft. Nur 30 Kilometer entfernt im Ruhrgebiet begegnen wir einer hohen Arbeitslosenquote, einer teilweise maroden Infrastruktur und einem hohen AfD-Wähler-Anteil. Dortmund zum Beispiel hat ein großes Problem mit Rechtsextremen. Im Verdacht abgehängt, tendenziell rassistisch und rechtsextrem zu sein, stehen meist aber nur die Ostdeutschen, obwohl es antidemokratische Einstellungen und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit auch im Westen gibt. Es werden Bilder von typischen Ost- und auch Westdeutschen konstruiert, die nicht der Realität entsprechen.
Was hat Ihre Untersuchung dann tatsächlich ergeben?
Unsere Studie zeigt: Es stimmt nicht, dass sich die Mehrheit der Ostdeutschen im Vergleich zu Westdeutschen häufiger individuell benachteiligt fühlt. Die Leipziger Autoritarismus-Studie von 2018 belegt zum Beispiel, dass 34 Prozent der Ostdeutschen sich manchmal als Menschen zweiter Klasse behandelt fühlen, im Westen sind es 28 Prozent, das sind nur 6 Prozentpunkte weniger. Die Daten der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) belegen, dass 69 Prozent der Ostdeutschen mittlerweile ihre eigene wirtschaftliche Lage als gut beziehungsweise sehr gut einschätzen, im Westen beträgt der Anteil 72 Prozent. Hier hat es seit der Wende eine Angleichung gegeben. Wir können nicht erkennen, dass die Ostdeutschen sich selbst viel häufiger als benachteiligt einschätzen als die Westdeutschen.
Erst im September 2020 titelte der Spiegel „30 Jahre nach der Einheit ist Deutschland noch immer geteilt“ und bezog sich damit auf eine Studie der Bertelsmann Stiftung, die nahe legte, dass Ostdeutsche sich öfter als Bürger zweiter Klasse fühlen. Warum weichen Ihre Ergebnisse hier ab?
Weil in der Bertelsmann-Studie nicht danach gefragt wurde, ob die Befragten sich selbst als Bürger zweiter Klasse fühlen. Stattdessen sollten die Befragten sich zu der Aussage „Die Ostdeutschen werden wie Bürger zweiter Klasse behandelt“ positionieren. Das ist für uns ein kleiner, aber wichtiger Unterschied. Es zeigt, dass man hier zwischen empfundener individueller und empfundener kollektiver Benachteiligung differenzieren muss. Erst wenn die Gruppenidentität der Ostdeutschen getriggert wird, sagen Ostdeutsche mehrheitlich, dass die Ostdeutschen eine benachteiligte Gruppe seien, individuell fühlen sich die meisten Ostdeutschen allerdings gar nicht benachteiligt. Diese medial weit verbreitete Erzählung der Benachteiligung wird zur selbsterfüllten Prophezeiung und verstärkt Konflikte zwischen den beiden Landesteilen und die Opferrolle der Ostdeutschen.
Ihre Studie enthält auch Handlungsempfehlungen. Was wären Ihre wichtigsten?
Wir sollten vieles dafür tun, dass das Zusammenwachsen der beiden Landesteile durch gemeinsame überregionale Projekte gefördert wird, dass wir in offiziellen Stellungnahmen und Dokumenten für die Öffentlichkeit auf diese geographische Einteilung verzichten, und zudem braucht es zu Überwindung der Spaltung Empathie und Mitgefühl, welche durch überregionale Kontakte, aber auch durch Präventionsmaßnahmen in der Kinder- und Jugendarbeit hergestellt werden können. Nur mit Empathie kann gesellschaftlicher Zusammenhalt gelingen und eine Demokratie funktionieren.
Die Fragen stellte Pia Siemer.