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Warum wir gerade in der Corona-Krise Medienkritik üben sollten, erklären Professorin Sonja Ganguin und Johannes Gemkow. Dabei spielen Smartphones und die Sozialen Medien eine besondere Rolle.
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Am ReCentGlobe arbeiten mehr als 200 Mitarbeiter*innen zusammen und untersuchen, ausgehend von einem handlungs- und akteurszentrierten Ansatz, Globalisierungsprojekte der Gegenwart und Vergangenheit. An dieser Stelle kommen jede Woche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Zentrums zu Wort, geben Einblicke in ihre Forschung und treten miteinander in eine Debatte.

Soziale Medien, Smartphones oder das Internet der Dinge scheinen heute selbstverständliche Bestandteile unserer Lebens- oder Medienwelt zu sein; sie sind aber historisch gesehen erst sehr jung. Ihre rasante technologische Evolution und ihr enormer Bedeutungsgewinn im Privaten, im Bildungssektor, in der Industrie, aber auch in der Politik, überholen notwendige Regulierungsbemühungen durch staatliche Organe. Auch überfordern sie individuelle und sozial verankerte Handlungsstrategien eines souveränen Umgangs mit diesen neuen, digitalen Medien. Deswegen ist es gerade in der aktuellen Debatte über das Corona-Virus wichtig, in der Handlungen aus allen Lebensbereichen vom analogen ins digitale verlegt werden, Medienkritik zu üben.

Der unregulierte Umgang mit Nutzer*innendaten, die von den unterschiedlichen Sozialen Netzwerken gesammelt und verkauft werden, macht dabei zwei Fakten deutlich.

Erstens: Wir stecken aktuell in einer technologischen, politischen und wirtschaftlichen Situation, in der globale Medienunternehmen mit ihren Angeboten (Plattformen, Dienste, Betriebssysteme etc.) und mit ihrem Umgang mit Nutzer*innendaten in quasi-autonomen Räumen operieren können – und wollen. Politik und Rechtsprechung müssen diese rechts- und regulationsfreien Räume der globalen Medienkonzerne erkennen und dann auch peu à peu durch das Verhindern von digitalen Medien-Monopolen und die Ermöglichung von alternativen Anbietern strukturieren.

Zweitens: Verändert man die Perspektive hin zu den Nutzer*innen, dann wird deutlich, dass der Datenge- oder -missbrauch der ‚Platzhirsche‘ auf dem digitalen Medienmarkt gestützt wird durch eine zumeist sorglose Nutzung z.B. Sozialer Medien durch die User*innen. Alle Anbieter Sozialer Medien weisen – wenn auch versteckt in den AGBs – darauf hin, dass Nutzer*innendaten weiterverwendet werden. Sie bewegen sich mit ihrer Praxis der Datenverwendung also innerhalb der legalen Vorgaben. Dieses funktioniert allerdings nur, weil (bislang) die Nutzer*innenseite eher desinteressiert daran ist, was hinter ihrem Googeln, Twittern und Posten alles passiert. Ein kritisches Mediennutzungsbewusstsein, das die Logiken, auch die technologischen, der Medienanbieter und die immensen persönlichen und gesellschaftspolitischen Konsequenzen der Verfügungsgewalt über Big Data erkennt und die persönlichen Konsequenzen zu reflektieren weiß, scheint ebenso wie die rechtlichen Regulationen hinter der technologischen Rasanz der digitalen Medien herzuhinken. Medienkritik im Digitalen heißt heute nicht mehr nur, vorsichtig mit dem Posten privater Bilder oder der eigenen Telefonnummer zu sein. Die Auswirkungen digitaler Datensammlung und -verwendung z.B. auf Wahlkämpfe und politische Entscheidungen verweisen auf eine weitaus größere Dimension. Hier wird auch Medienkritik vor eine neue Qualität von Herausforderungen gestellt.

In diesem Beitrag möchten wir mit dem Konzept der Mediatisierung eine kommunikationswissenschaftliche wie auch medienpädagogische bzw. medienkritische Perspektive auf die gerade aktuell stattfindenden Diskurse zur Corona-Pandemie aufzeigen. 

Was bedeutet Medienkritik und Mediatisierung angesichts der Corona-Pandemie?

Erstens wird die in den letzten Jahren immer wieder geführte Debatte um die Wirkung der Medien nun gravierend abgefedert. Deutlicher als zuvor tritt die Erkenntnis zutage, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt nicht einseitig von Technologien, Nutzungsdauern und -formen abhängt. Die Mediatisierungsforschung wird in der aktuellen Situation selbst gefordert, den Wandel unserer über Jahre hinweg praktizierten öffentlichen, beruflichen und privaten Gewohnheiten angemessen mit sich wandelnden Medienpraktiken zu erklären. Vermutlich wird es aufgrund der zeitlich so dichten Wandlungsprozesse und deren noch schwer absehbarer Folgen vorerst bei einer Beschreibung sich neu etablierender Medienpraktiken bleiben müssen. Diese neuen Medienpraktiken zeigen sich in der Corona-Pandemie auf verschiedenen Ebenen über nahezu alle Bereiche des Lebens.

In der Politik zeigt sich aktuell eine Stärkung (teil-)staatlicher Einheiten, welche wiederum auf der Ebene der öffentlichen Kommunikation eine Debatte über demokratische Grundwerte sowie unterschiedliche Staatsformen und deren Handlungsspielraum auslöste (bspw. sozialistisches Einparteiensystem gegen liberalistische Demokratie).

In Form von Organisationen und Gemeinschaften entstehen neue kommunikative Räume und Praktiken, die gleichermaßen Techniken und Kompetenzen einfordern, welche sich gerade erst jetzt herausbilden müssen (bspw. Home-Office und Home-Schooling). Im Bildungsbereich sind Fragen der Organisation, Kommunikation und Information nicht mehr zu trennen von moralischen Grundsätzen und Praktiken transnational agierender Unternehmen (bspw. Google, Facebook oder jüngst der Videokonferenzdienst Zoom). In jedem Bereich sind diese Auswirkungen, ähnlich dem Klimawandel, zu spüren.

In Form von journalistischen, aber auch pseudo- bzw. explizit antijournalistischen Kommunikationspraktiken, welche vermehrt über Online-Netzwerke veröffentlicht werden, tritt die mediatisierte Pandemie unmittelbar in unsere Alltagswelt. Dies betrifft die vielseitigen Narrative der Pandemie. Diese zeigen sich beispielsweise in der dramaturgischen Inszenierung der Ausbreitung des Virus über Live-Karten, Ticker, interaktive Grafiken und tägliche Podcasts. Gleichzeitig gewinnen „Große Erzählungen“ an Strahlkraft, wenn politische Systeme und ökonomische Logiken gegeneinander abgewogen werden. Die Narrative zeigen sich aber auch in demokratieuntergrabenden Kommunikationspraktiken. Dazu gehören die selektive Informationssuche, das Verschwinden journalistischer Gatekeeper, Skandalisierung der Narrative durch Fake News und gelenkte Empörung sowie technologische Aspekte wie die Instrumentalisierung algorithmenbasierter Anzeigemechanismen und das Schaffen von Meinungstendenzen und alternativen Realitäten durch Social Bots.

Zweitens wird deutlich, welche ursprüngliche Rolle dabei Medienkommunikation zuteil wird. Ob in der Öffentlichkeit über klassische Massenmedien, auf der Arbeit über Videokonferenzen oder im Privaten über Messenger-Dienste: Überall wird Bedeutung vermittelt, welche der sozialen Konstruktion von Sinn dient. Kurzum: Man versucht, eine Situation zu bewältigen, die nicht vorhersehbar war, aber einschneidend ist. Medienkommunikation ist auch ein Wahrnehmungs- und Ausdrucksstil, also in bestimmten Gemeinschaften und Gruppen etablierte Darstellungskonventionen von Zeichen. Auch im Kontext von Corona existieren bestimmte „Symbolmilieus“. Hierbei handelt es sich um eine fortgesetzte Arbeit an der eigenen Lebenswelt und dem eigenen Wertegefühl. Beispiele solcher Symbolmilieus finden sich nicht nur in „#WirBleibenZuhause“, „#Klopapier-Challenge“, „#NachbarschaftsChallenge“ sondern ebenso in Aktionen wie „Online-Pranger“, „Corona-Diktatur“ oder „WhatsApp-Kettenbriefe“.

Die Symbolmilieus teilen neben ästhetischen Darstellungskonventionen auch gemeinsame Leitbilder und Normen, welche sowohl Ausdruck kommunikativer Praktiken als auch deren Ergebnis sind. Solidarität wird dabei nicht nur über gesellschaftlich goutierte Praktiken gepflegt, sondern auch über Praktiken, die gezielte Desinformation und Verbreitung von Verschwörungstheorien avisieren. Kommunikative Praktiken auf Internet-Plattformen können neben ihren vielfältigen Orientierungs- und Stabilitätsaufgaben unter anderem zu milieuspezifischen Informationsrepertoires führen, die eine Fragmentierung der Gesellschaft begünstigen.

So können wir beobachten, dass ideologisierte Kommunikationsstrategien vermehrt über Internet-Plattformen öffentlich kommuniziert werden, weil dort kein Gatekeeper ‚Wache schiebt‘. Die Aktivitäten demokratieuntergrabender Akteur*innen in Internet-Plattformen haben in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen, was unter anderem auch auf eine unreflektierte, extremistische Inszenierung durch journalistische Medien zurückzuführen ist. Ideologisierte Bewegungen profitieren vor allem von ihrer Kommunikation in sozialen Medien und durch deren verstärkte Darstellung in klassischen Medien. Negativ-personalisierte, schnelllebige und vereinfachende Berichterstattung verstärkt in diesem Feld ein Misstrauen gegenüber der Politik und wird so zum versteckten Helfer fragwürdiger Parolen. Teilweise lassen sich hierbei länderübergreifende Muster erkennen; kein Wunder, denn das Netz berücksichtigt keine Staatsgrenzen. Allerdings haben auch das politische System und das Mediensystem Einfluss auf Gestalt und Wirkung ideologisierter Kommunikationspraktiken. Beispielsweise kommunizieren Landesregierungen über soziale Netzwerke wie Twitter und Instagram, Podcasts mit renommierten Virologen werden zu zentralen Quellen der Aufklärung.

Die sich wandelenden Kommunikationspraktiken und die zunehmende Verbreitung von Desinformation im Netz machen deutlich, dass die zentrale Herausforderung der Digitalisierung nicht mehr darin liegt, die Nutzung digitaler Medien zu ermöglichen, sondern dass es vielmehr darum geht, Symbolmilieus zu beschreiben und Nutzer*innen zu einer konstruktiven, kritisch-reflektierten Teilhabe im Internet und an der Gesellschaft zu befähigen.