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Mitunter wird die Forschung von der Realität überholt, etwa zum Thema „Kriegsangst". Zwischen 2017 und 2019 unternahm eine Gruppe internationaler Doktorand:innen der Graduate School Global and Area Studies gemeinsam mit dem Osteuropahistoriker Stefan Troebst mehrere Exkursionen nach Estland, in den Südkaukasus und die Ukraine. Das Feldforschungsprojekt bot die Möglichkeit das Thema der Kriegsangst im post-sowjetischen Raum genauer zu untersuchen.

Für unseren Blog rekapitulierte Troebst vergangene Woche die Reisen nach Estland und nach Armenien. Im zweiten Teil geht es um Kriegsangst in der Ost- und Süd-Ukraine 2019 bis in die Gegenwart.

In der internationalen Forschung zu Krieg und Frieden, zu Konfliktprävention und konstruktiver Konfliktbearbeitung, spielt Kriegsangst keine prominente Rolle. Und auch im relativ neuen Forschungsfeld der Gewaltmigration wird Fluchtverursachung durch militärische, paramilitärische und zivile Akteure, aber auch durch Medien, also das aktive Erzeugen von diffuser Kriegsangst bzw. konkreter Kriegsfurcht sowohl mittels Drohkulissen als auch durch selektive Gewalt in der Regel stiefmütterlich behandelt. Reaktionen auf akute wie latente Kriegsangst sind vielfältig – und müssten damit eigentlich Gegenstand konzertierter disziplinenübergreifender Forschung sein. Ein Feldforschungsprojekt des Global and European Studies Institute (GESI) der Universität Leipzig in Estland, dem Südkaukasus und der Ukraine bot die Möglichkeit das Thema der Kriegsangst im Postsowjetischen Raum genauer zu untersuchen. Zwischen 2017 und 2019 unternahm ich mit einer Gruppe internationaler Doktorand:innen der Graduate School Global and Area Studies, Forscher:innen mehrere Exkursionen in Staaten, deren Bewohner in latenter und teils auch akuter Kriegsangst leben. 2019 führte uns die Forschung in die Ukraine.

 

Kriegsangst in der Ost- und Süd-Ukraine (2019)

Das Auftauchen der „grünen Männchen“ auf der ukrainischen Halbinsel Krim 2014 als Vorstufe einer veritablen militärischen Intervention, Okkupation und mittels Pseudo-Volksabstimmung völkerrechtlich camouflierten Annexion, desgleichen das Einsickern russländischer Geheimdienstoffiziere und Militärs in die ostukrainischen Bezirke Donezk und Luhansk samt Proklamation von semi-souveränen „Volksrepubliken“ dort war eigentlich nur die Vorstufe eines wesentlich größeren Masterplans namens „Novorossija“ (Neurußland – ein Terminus aus katharinäischer Zeit). Der Plan, die ukrainische Küstenregion am Asowschen Meer von Mariupol bis zur östlichen Straßenverbindung auf die Krim durch die E 105, weiter in Richtung der Großstädte Melitopol, Cherson, Mykolajiv und Odessa sowie idealerweise mittels Anschluss an die russländischen Stationierungstruppen im Dnjestr-Tal im Osten Moldovas zu erobern, wurde durch Sanktionsandrohungen von außen sowie durch die medial katastrophale Wirkung von „Betriebsunfällen“ wie dem Abschuss des Fluges MH 17 der malaysischen Fluglinie mit ihren mehrheitlich niederländischen Opfern durch eine russländische BUK M1-Boden-Luft-Einheit auf Eis gelegt, aber dennoch nur vorerst.

Der – äußerliche – Eindruck der nordostukrainischen Großstadt Charkiv im Sommer 2019 war derjenige einer emsigen europäischen Metropole mit postsowjetischem Einschlag. Ganz anders dann die Situation am 40 km in nördlicher Richtung gelegenen Grenzübergang Hoptivka/Nechoteevka zur Russländischen Föderation: Der junge, aus der Westukraine stammende ukrainische Kommandeur beantwortete die Bitte, per Mobiltelefon seinen russländischen Kollegen von der anderen Seite zu unserem Gespräch einzuladen, mit Kopfschütteln: Zum einen habe er keine Nummer – selbst im Falle von schweren Grenzzwischenfällen laufe die telefonische Kommunikation umständlich via Kiev und Moskau – und zum anderen gäbe es keinerlei direkten Kontakt, auch nicht mündlich. Wenn sein Gegenüber die Grenze komplett schließe, merke er das lediglich an den kilometerlangen LKW-Staus auf ukrainischer Seite – und sehe per Fernglas die analogen Staus aus Richtung Belgorod auf der anderen. Informationen über die Dauer der Grenzschließung erhielte er nicht, auch nicht, wenn er an die Grenzlinie ginge und die russländischen Wachen dort um Information bitte, da diese Sprechverbot hätten.

So idyllisch der bewaldete orthodoxe Pilgerort Svjatochirsk am „Eingang“ zum Donbass war, so überraschend ländlich, da auf den ersten Blick unindustrialisiert nahm sich auch das nördliche Donezker Industriegebiet bei Slovjansk, Kramatorsk und Bachmut aus: Rollende Hügel mit Weizen-, Mais- und Rübenfeldern, dazwischen Gehölze und nur sehr vereinzelt Fördertürme. Die Wirkungen des Krieges von 2014 waren allerdings bei der Einfahrt nach Kramatorsk deutlich sichtbar: Hier fehlten von etlichen Wohnblocks ein Viertel der Bausubstanz – durch Artilleriebeschuss aus dem Separatistengebiet zerstört. Auch die fünfmonatige Besetzung der Stadt durch pro-moskauische Paramilitärs ist weiterhin spürbar: Unserer Stadtführung näherten sich etliche mittelalte Männer in Lederjacken, die versuchten, den englischen Erklärungen unseres Führers zu lauschen. Das jugendliche Publikum in einer Pizzeria erwies sich zwar als Einheimische, die indes mehrheitlich auf Urlaub aus ihren Arbeitsstellen in Dnipro, Charkiv und Kiev waren. Deutlich ältere Einwohner in einem Park waren bezüglich der Frage, wie denn das Leben jetzt hier so sei, einsilbig, aber zwei teilten mit, ihre Wohnungen seien ausgebombt.

In Bachmut, vormals Artemijsk, hat das Staatliche Pädagogische Institut für Fremdsprachen aus dem nahegelegenen Horlivka, jetzt im Separatistengebiet gelegen, Zuflucht gefunden – unter mehr als defizitären Bedingungen, aber immerhin. Im Gegensatz zu etlichen der Studierenden trauten sich die Lehrenden nach ihrer zumeist panikartigen Flucht, häufig direkt von der Arbeitsstelle, nicht mehr in ihre in Sichtweite liegenden Wohnungen in Horlivka zurück – unter Zurücklassung ihrer privaten Bibliotheken, Bilder, Hausrat, Möbel und Haustiere. Die Erleichterung darüber, persönlich in Sicherheit zu sein – und sogar den eigenen Beruf weiter ausüben zu können –, kontrastierte hier hart mit dem völligen Verlust des früheren Lebens.

In die beiden Separatistengebiete, die „Volksrepublik Donezk“ und die kleinere „Volksrepublik Luhansk“, sind wir aus Sicherheitsgründen nicht gefahren, aber an zwei Stellen an die sogenannte Kontaktlinie zwischen der besagten „Volksrepublik Donezk“ und dem von der Zentralregierung in Kiev kontrollierten Territorium des Donezker Donbass. Am Checkpoint Majorske nördlich der Großstadt Donezk war der habitusmässig deutlich „sowjetische“ ältere Kommandeur sichtlich genervt von unseren Fragen, die er aber aufgrund unserer Eskorte durch die ukrainische Armee zwangsläufig beantworten musste. Seine Antwort auf die Frage, ob man über seinen Checkpoint z. B. in Deutschland gestohlene SUVs nach Russland bringen könnte, lautete einsilbig, indes uneindeutig „Pobrobuj!“ (Versuch’s!).

Um zum anderen Checkpoint in die „Volksrepublik Donezk“ im Süden zu kommen, war eine lange Fahrt um die von Separatisten kontrollierte Metropole Donezk herum erforderlich, da die Nord-Süd-Autobahn, die Charkiv und den Donbass mit der Küste des Asowschen Meeres verbindet, durch die Separatisten unterbrochen ist. Bei dem Umweg, den wir mit der Armee-Eskorte über kleine Landstraßen fuhren, waren wir erstaunt, wie weit westlich noch die kleinen roten Schilder „Achtung, Minen“ am Straßenrand zu sehen waren. Diese markierten den damaligen weitreichenden Vorstoß der russländischerseits geführten und aufgerüsteten Separatisten.

Am Checkpoint Hnutove, ca. 15 Kilometer von der Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer entfernt, aber nur über feldwegartige Pisten erreichbar, erwartete uns ein junger ukrainischer Kommandeur, der aus dem Westteil des Landes stammte und überaus informationsfreudig war. Aktuelles Problem war ihm zufolge die Versorgung mit Trinkwasser für die hunderten Ukrainer, die zum einen nach Passieren seines Checkpoints in der Sommerhitze im Niemandsland auf die Einreise in die „Volksrepublik Donezk“ zu warten hatten, dito für die durstigen Einreisenden aus der anderen Richtung, die ebenfalls stundenlang Schlange gestanden hätten. Im Unterschied zum Kontrollpunkt Majorske gab es in Hnutove eine überdachte Halle, Dixi-Toiletten und Wasserhähne. Schusswaffengebrauch im Niemandsland zwischen den beiden Checkpoints auf ukrainischer sowie separatistischer Seite sei selten – anders als nördlich und südlich davon, wo es nachts regelmäßig zu gegenseitigem Beschuss durch Artillerie und Scharfschützen käme.

Mariupol machte gleich Charkiv auf den ersten Blick den Eindruck einer pulsierenden europäischen Großstadt, der allerdings sofort durch die Nachbarschaft unseres Hotels korrigiert wurde: Denn direkt daneben befand sich das ehemalige Hauptquartier der sowjetische Miliz, heute der ukrainischen Polizei, das von den Separatisten 2014 mit Waffengewalt besetzt wurde, um von dort aus die gesamte Stadt unter Kontrolle zu bringen. Das gelang allerding nicht, so dass sich die Separatisten entlang der Küstenstraße ins russländische Rostov-am-Don zurückziehen mussten. Das weiterhin als Polizeihauptquartier dienende Gebäude ist seitdem von vier Meter hohen Betonplatten umgeben – mit nur wenigen Schlitzen dazwischen. Wie in Kramatorsk lagen allerdings auch die Plattenbauten an der östlichen Peripherie Mariupols 2014 unter russländischem Artilleriebeschuss – mit der Folge von mehreren Dutzend Todesopfern.

In einem Besuch bei der Staatlichen Universität Mariupol bekamen wir Normalität vorgespielt, bei der in die Stadt evakuierten Staatlichen Donezker Verwaltungsuniversität indes das genaue Gegenteil: Auch hier waren Lehrkörper und Studierende einerseits froh, dass sie unter extrem eingeschränkten Bedingungen irgendwie weiter arbeiten konnten. Aber allen wäre deutlich lieber gewesen, außerhalb der Reichweite russländischer Artillerie zu leben – etwa durch Auslagerung ins westukrainische Lemberg (L’viv), gleich dem ukrainischen Erstliga-Fußballverein Schachtjor Donezk.

Oligarchenbedingt läuft zwar der Transport von Kohle aus den Separatistengebieten weiterhin in die Stahlwerke von Mariupol, aber die immer enger werdende russländische Abschnürung der ukrainischen Häfen am Asowschen Meer reduziert den Export ukrainischer Kohle und Stahl zunehmend. Das sahen wir im Hafen von Mariupol, wo sich keiner der gigantischen Kräne, geliefert in der „goldenen Zeit der Stagnation“ unter dem sowjetischen Partei- und Staatschef Leonid Brežnev vom DDR-VEB Kranbau Eberswalde, heute TAKRAF GmbH, drehte. Dasselbe Bild bot sich uns auch im Hafen Berdjansk, wo uns der Hafendirektor im Zuge einer Hafenrundfahrt die ukrainische Kriegsflotte im Asowschen Meer präsentierte: Ein Bergungsschiff mit einer einzigen kleinkalibrigen Kanone an Bord und zwei höchstens zehn Meter lange, unlängst über Land herbeigeschaffte Nussschalen.

Dass die Alarmbereitschaft der ukrainischen Armee nicht nur in den beiden weiterhin unter Kiever Kontrolle befindlichen Teilen der Bezirke Donezk und Luhansk sondern auch weiter westlich besteht, konnten wir auf der Ost-West-Fernverkehrsstraße M 14 am Ortseingang von Berdjansk feststellen. Der junge Kommandant des Armee-Kontrollpunkts stoppte unser Fahrzeug, warf einen – flüchtigen – Blick auf unsere Reisepässe und salutierte sodann mit der Mitteilung, wir möchten dem Armeekommando mitteilen, dass der Kontrollpunkt Berdjansk in vollständiger Operativbereitschaft befindlich sei. Da hatte einer wohl eine Weisung von oben bekommen …

Unsere Partner von der Staatlichen Pädagogischen Universität Berdjansk waren bei einem Mittagessen in einer idyllischen Gartenwirtschaft besorgt bezüglich der Beziehungen zur Russländischen Föderation. Ein Dozent merkte an, dass zum einen die russländische Flottenbasis Jejsk am Ostufer des Asowschen Meeres nur ein paar Dutzend Seemeilen entfernt liegt und man zum anderen von Berdjansk nur schwer weg kommt: Denn weil der früher nächstgelegen Flughafen Donezk jetzt zerstört sei, müsse man 24 Stunden vor Abflug mit Bahn oder Bus zum Flughafen Borispol bei Kiev reisen – und ein Auto habe er nicht. Mit anderen Worten: Am Tag X ist sichere Flucht aus der Stadt nicht mehr möglich. Und eine exilierte Studentin aus der „Volksrepublik Luhansk“ teilte mit, dass sie sich in Berdjansk zwar wohl, aber nicht sicher fühle. Auch besuche sie ihre Eltern im Separatistengebiet mittlerweile nicht mehr, da sie bei ihrem letzten Besuch dort von Uniformierten zu einer stundenlangen Befragung „zur Klärung eines Sachverhalts“ auf einem Militärgelände abgeholt worden und erst nach strenger Verwarnung entlassen worden sei.

Der Berdjansker Hafendirektor machte auf „Business as usual“ und lud auf die „TurBaza“, eine Art hafeneigenem Erholungsheim, auf der nahegelegenen Nehrung ein – was wir zum Schwimmen, Entspannen und Fischessen natürlich gerne angenommen haben. Die Kfz-Schilder der auf der Halbinsel parkenden Autos waren mehrheitlich aus anderen Teilen der Ukraine. Entsprechend dann der Eindruck eines abendlichen Besuches in der überfüllten Fußgängerzone und auf der Uferpromenade von Berdjansk mit ihren zahlreichen Cafés, Restaurants und Discos. Denn hierher hat sich der ukrainische Sommertourismus nach der Annexion der Krim durch die Russländische Föderation partiell verlagert. Kriegsangst war unter den Badetouristen aus Poltava, Sumy und Tschernihiw auf den ersten Blick nicht erkennbar, da wohl durch Sonne, Strand und Bier temporär verdrängt.

Auf einer langen Minibus-Tour vom Südosten in den Südwesten der Ukraine durch Städte wie Cherson und Mykolajiw haben wir keine Eindrücke gewinnen können, wie auch zeitbedingt Abstecher zum touristisch erschlossenen Naturschutzgebiet um die Siedlung Askanija-Nova, eine sächsische (!) Gründung aus dem 18. Jahrhundert, sowie an die Demarkationslinie zur russländisch annektierten Krim beim Kontrollpunkt Armjansk/Kalantschak ausfallen mussten.

Die (mehrheitlich russophone) ukrainische Schwarzmeermetropole Odessa brummte dann weniger durch einheimischen sondern eher durch internationalen Tourismus, vor allem aus Großbritannien und Russland, wie nicht zuletzt die hohen Preise in den zahlreichen Steakhouses, Nobelrestaurants und Bars rund um die aus dem frühsowjetischen Film von Sergej Eisenstein „Panzerkreuzer Potemkin“ berühmte Treppe sowie auf der neuen grandiosen Seebrücke am Treppenufer belegten. Der Alltag der Odessiten spielte sich allerdings weniger in den zentral gelegenen Teilen der Hafenstadt ab als vielmehr in den zahlreichen Plattenbau-Rayons sowie in den desolaten Quartieren um den sowjetklassizistischen Hauptbahnhof herum. Nur getrennt von einem vernachlässigten Park steht hier in Bahnhofsnähe die Ruine des Gewerkschaftshauses, in dem am 2. Mai 2014 zahlreiche pro-moskauische Demonstranten einen tragischen Verbrennungstod gefunden haben. Am Absperrzaun um das ausgebrannte Gebäude waren zahlreiche Fotografien der Opfer, Blätter mit Gedichten sowie Parolen gegen die „Faschisten auf dem Majdan“ befestigt. Die interethnische Spannung zwischen der ukrainischsprachigen Minderheit und den pro-Kiever Russophonen in der Stadt einerseits und der anderen Hälfte von nicht nur russischsprachigen, sondern pro-russländischen Stadtbewohnern andererseits war hier überdeutlich. Kriegsangst und Interventionshoffnung hielten sich hier wohl die Waage.

Kriegsangst in der Ukraine heute

Die seit 2014 latente, regional auch akute Kriegsangst in der Ukraine hat sich seit 2021 massiv verstärkt. Dies nicht nur durch die Frühjahrsmanöver und den vorwinterlichen Truppenaufmarsch von 2021 der Streitkräfte der Russländischen Föderation, der mittlerweile über 100.000 Man, transferiert zu einem großen Teil aus Sibirien, sondern auch durch die mittlerweile nahezu komplette Abschnürung der ukrainischen Küste des Asowschen Meeres durch die neue 19 Kilometer lange Brücke zwischen Russland und der Halbinsel Kerč auf der Krim, desgleichen durch die gewaltsame Übernahme ukrainischer Bohrinseln im Schwarzen Meer und durch den dramatisch ausgeweiteten Anspruch auf eine russländische exklusive Wirtschaftszone in ebendiesem Meer – begründet auch und gerade durch die Küstenlinien der annektierten ukrainischen Halbinsel Krim.

Entsprechend ist ein Spillover-Effekt in Sachen sicherheitspolitischer Unsicherheit auf die NATO-Schwarzmeer-Anrainer Rumänien, Bulgarien und Türkei bezüglich der Expansionspolitik Moskau festzustellen, da dieses internationale Gewässer seitens Russlands mittlerweile zu großen Teilen als „eigenes Binnenmeer“ reklamiert wird. Zwar hat die Republik Türkei gemäß der Konvention von Montreux von 1936 ein völkerrechtlich scharfes Schwert in der Hand, um dem vorzubauen, hat dieses aber weder mit Blick auf die russländischen Flotten- und Militärbasen im Syrien des Despoten Assad noch zum Schutz der muslimischen Krim-Tataren, als deren Protektor sie sich geriert, aus der Scheide gezogen. Mit anderen Worten: Das Schwarze Meer samt seinem Asowschen Nebenmeer und den Meerengen vom Bosporus über das Marmara-Meer und die Dardanellen zur Levante sind aufgrund der hochgradig aggressiven und geopolitisch motivierten, indes rabulistisch begründeten Strategie der Russländischen Föderation ein Brennpunkt der Weltpolitik – mit der Folge von Kriegsangst in derjenigen Großregion, die einstmals mit dem Negativlabel der „Orientalischen Frage“ belegt wurde.

Aber nicht nur in der Ukraine ist in diesen Tagen Kriegsangst akut, sondern auch in (Rest-)Nagorno-Karabach, latent weiterhin in Estland und in den beiden anderen baltischen Staaten, in Armenien und Georgien sowie unlängst aufflackernd in Kasachstan. Dennoch ist Kriegsangst kein flächendeckendes Phänomen im post-sowjetischen Raum. Denn das, was nach der Implosion der UdSSR als „nahes Ausland“ firmierte und heute in der Kreml-Terminologie als „russische Welt“ bezeichnet (und reklamiert) wird, wie etwa Teile des ukrainischen Ostens, Estlands Nordosten, der Osten Lettlands, Moldovas und Belarus‘, wird mehrheitlich medial aus Moskau „beschallt“. In potenziertem Masse gilt dies natürlich für die Russländische Föderation selbst, wo ungeachtet aktuell niedriger Zustimmungswerte für den amtierenden Staatspräsidenten das heroisierende Narrativ eines Russlands, „das sich von den Knien erhebt“, unhinterfragt bleibt. Dasselbe scheint auch für den Propagandatopos einer „Einkreisung Russlands durch den Westen“ zu gelten. Allerdings ist anders als 2014 auch noch keine „Fracht 200“, so die camouflierende Bezeichnung der Streitkräfte der Russländischen Föderation für Zinksärge mit Gefallenen, in den großen Militärstandorten wie Pskov, Woronesch oder Rostov-am Don angekommen.