Prof. Judith Miggelbrink, Professorin für Humangeographie an der TU Dresden und Teilprojektleiterin am SFB 1199, und Frank Meyer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Dresden und bis Ende 2019 Wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem SFB-Projekt, haben einen Essay zur Verräumlichung des Coronavirus geschrieben. Im Interview erklärt Judith Miggelbrink, was die Pandemie und die Maßnahmen dagegen für unser Verständnis von Globalisierungsprozessen bedeuten.
Frau Miggelbrink, Sie erforschen Globalisierung, ein Konzept, das jeder kennt und das doch häufig abstrakt bleibt. Wird ihr Forschungsgegenstand jetzt, durch die Ausbreitung des Coronavirus über die ganze Welt, plötzlich sichtbar?
Judith Miggelbrink: Ja und nein. Dass wir in einer globalisierten Welt leben, war schon lange sichtbar. Dem kann sich heute kaum jemand mehr entziehen, auch diejenigen nicht, die sich das – aufgrund welcher Motive und Intentionen auch immer – wünschen. Aktuell wird allerdings vielen Menschen bewusster, dass Globalisierung nicht allein das ist, was Akteure aufgrund ihrer Interessen und Entscheidungen herstellen und nutzen – also zum Beispiel globale Waren-, Liefer- und Wertschöpfungsketten oder „unendliche“ Reisemöglichkeiten, sondern dass es auch nicht intendierte Folgen globalen Handelns gibt: Das Corona-Virus „folgt“ ja in gewisser Weise seinem global agierenden Wirt, dem Menschen.
Sie schreiben in Ihrem Aufsatz, dass wir bisher in einer von Hyperkonnektivität geprägten Welt gelebt haben. Was bedeutet das?
Judith Miggelbrink: Es gibt eine stetig wachsende Zahl von Vernetzungsmöglichkeiten, wir sprechen da vor allem von drei Formen: Mensch-zu-Mensch, Mensch-zu-Maschine und Maschine-zu-Maschine. Alle Formen haben Auswirkungen auf unseren Alltag und auf die Weise, wie Politik und Wirtschaft gemacht werden. Durch diese Möglichkeiten und technischen Infrastrukturen sind wir mehr und mehr miteinander vernetzt. Das hat es schon vor der Corona-Pandemie gegeben. Technische Möglichkeiten sind Treibsätze der Globalisierung. Aktuell erleben wir, dass diese Techniken in der Krise auch helfen können, um sogenannte Workarounds zu finden, wenn direkte Kontakte vorläufig nicht mehr möglich sind. Die Interaktion von Mensch-zu-Mensch wird aktuell und erzwungenermaßen, wo immer das möglich ist, durch die Interaktionsformen Mensch-zu-Maschine ersetzt. Wie das unsere Vernetzung und Kommunikation und damit letztlich auch den Umgang miteinander verändert, werden wir erst sehen, wenn die Krise abflaut.
Was wir jetzt auch beobachten können, sind neue Solidaritäten. Gerade auf kleinräumiger Ebene, in Stadtvierteln und Dörfern passiert viel Neues. Dass man sich dabei auf ein neues „Wir“, auf die Gemeinschaft beruft, sehe ich durchaus positiv. Dabei sollte man aber auch bedenken, dass es neben wunderbaren Akten von Solidarität, vor allem auf der Mikroebene, auch neue Ausschlüsse produziert und bestehende verschärft werden. Dabei denke ich zum Beispiel an die Geflüchteten auf Lesbos und in der Türkei oder Asylsuchende, die an der mexikanisch-amerikanischen Grenze postwendend zurück geschickt werden. Die dahinterstehenden Probleme sind nicht neu, aber sie verschärfen sich jetzt noch mal. Eine Besinnung auf Gemeinschaft ist sehr wertvoll, aber wir sollten sehr aufmerksam auf die Ausschließungen schauen, die jetzt ebenfalls entstehen.
Globalisierung kann auch als Verdichtung von Raum und Zeit interpretiert werden. Wie wirken die Maßnahmen gegen Corona dagegen?
Judith Miggelbrink: Die Maßnahmen, die von verschiedenen Regierungen nun eingesetzt werden, um die Verbreitung des Virus zu bekämpfen, können die Verdichtung nicht aufheben. Sie zielen eher darauf, einige der miteinander verflochtenen Ketten temporär zu unterbrechen – und zwar vor allem die Vernetzungen, die auf Bewegungen von Menschen basieren. Das geschieht auf globaler Ebene durch das Schließen von Grenzen und auf der lokalen Ebene. Diese einschneidenden Maßnahmen spüren wir alle in unserem Alltag. Der Staat schien unter Bedingungen der Globalisierung gegenüber anderen mächtigen Akteuren, wie zum Beispiel transnational agierenden Unternehmen, an Einfluss zu verlieren. Jetzt kommt ihm dabei eine entscheidende Rolle zu, denn die aktuell überall installierten Maßnahmen werden vor allem von den Nationalstaaten durchgesetzt – aber auch von diesen eingefordert. In Deutschland und anderen föderalen Staaten passiert das auch auf der Ebene von teilstaatlichen Einheiten. Staatliches Handeln wird aber nicht nur im Hinblick auf die Eindämmung und Verlangsamung des epidemiologischen Geschehens und der Bereitstellung von medizinischem Material und Personal gefordert, sondern auch im Hinblick auf die ökonomische Bewältigung der Krise, die ja nicht einfach „vom Markt“ gelöst wird. Es gibt in der Krise deutliche Rufe nach einem „starken Staat“ und diese werden von vielen Regierungen auch aufgegriffen. Die Maßstabsebene des (National-)Staates tritt ganz massiv in den Vordergrund.
Was wir bisher als globale Vernetzung erlebt haben, fühlt sich nun mehr nach Abhängigkeiten an. Wie verändert das unser Verständnis der Globalisierung?
Judith Miggelbrink: Das ist auch eine Frage der Perspektive. Was wir im Globalen Norden bisher als Vernetzung wahrgenommen haben, hat für Menschen in anderen Teilen der Erde schon lange Abhängigkeit bedeutet. Menschen im Globalen Süden ist schon lange schmerzhaft bewusst, dass ihre Möglichkeiten, den Lebensunterhalt zu verdienen, manchmal auch weniger als das, von Warenketten abhängig sind. Aus Gründen der Profitmaximierung sind diese global so organisiert, dass arbeits- und damit tendenziell kostenintensive Produktionsschritte, aber auch die Umwelt gefährdende Produktionen ausgelagert werden. Dabei denke ich zum Beispiel an die Produktion von Kleidung in den Fabriken von Bangladesch und die dortigen Textilarbeiter*innen, die eine weltweite Rezession hart treffen wird. Bislang war es für viele vor allem europäische und nordamerikanische Wirtschaftszweige eine lukrative Strategie, Produktionsschritte ins Ausland zu verlagern, momentan zeigen sich in der Tat aber auch die Abhängigkeit und Verletzlichkeit, die daraus entstanden sind, zum Beispiel in der Antibiotikaproduktion. Das haben wir – damit meine ich den Globalen Norden – stillschweigend hingenommen, solange wir davon profitiert haben und es funktioniert hat. Es bleibt abzuwarten, wie wir nach der Corona-Krise mit diesem neuen Globalisierungsgefühl umgehen werden.