Viele Nachrichten im Netz kreisen um Verschwörungen, umgekehrt werden Wortmeldungen, selbst wenn sie von Fachleuten kommen, kaum wahrgenommen oder massiv abgelehnt. In Zeiten von Corona verändern sich viele Gewohnheiten und die demokratische Gesellschaft sieht sich vor Herausforderungen gestellt, die schon ohne Krise nicht immer leicht zu lösen wären. Der Leipziger Sozial- und Medizinpsychologie Oliver Decker äußert sich im Interview die gegenwärtige gesellschaftliche Dynamik zum demokratischen Zusammenhalt.
Sie unterscheiden zwischen Verschwörungstheorien und -mentalitäten – warum ist das in diesen Zeiten wichtig?
Oliver Decker: Ich halte es grundsätzlich für wichtig, zwischen Verschwörungstheorien, -ideologien und -mentalitäten zu unterscheiden. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Als Halot Yozgat 2006 von den Mördern des NSU in seinem Internetcafé in Kassel erschossen wurde, war ein Verfassungsschutzmitarbeiter genau in diesem Raum. Wer sich darüber Gedanken macht, wie es dazu kam, kann sich leicht den Vorwurf einhandeln, eine Verschwörungstheorie aufzustellen. Das Misstrauen ist aber durchaus gerechtfertigt, denn bis heute hat der Inlandsgeheimdienst keine Erklärung für diese Tatbedingung geliefert. Anders sieht es bei Verschwörungsideologien aus: Sie versuchen, komplexe gesellschaftliche Verhältnisse mit dem angeblichen Wirken von wenigen Menschen zu erklären, die „im Hintergrund die Fäden ziehen“. Seit Jahrhunderten ist beispielsweise der Antisemitismus solch eine von vielen Menschen geteilte Ideologie. Antisemitismus ist nicht bloß ein Vorurteil. Auch jetzt in der Corona-Krise kommt er zum Tragen, z.B. in der Behauptung, das Virus stamme aus einem Labor des Mäzens George Soros. Mit dem Begriff Verschwörungsmentalität versucht die Sozialpsychologie wiederum das Bedürfnis zu bezeichnen, solche Ideologien zur Verfügung zu haben.
Warum werden große gesellschaftliche Herausforderungen wie der Klimawandel oder jetzt der neuartige Corona-Virus von solchen Verschwörungsideologien begleitet?
Die Vorstellung von einer Verschwörung dient einem Bedürfnis, erfüllt eine psychische Funktion. Verschwörungsideologien reduzieren Komplexität, gestatten es zudem, eigene Ängste zu binden und Aggressionen berechtigterweise zu äußern – man wird ja schließlich von einer bedrohlichen, viel stärkeren, anonymen Macht verfolgt. Während der erstere Teil – die Komplexitätsreduktion –mit der Vermeidung von Ohnmachtserleben zu tun hat, kann man die letzteren beiden Funktion – Angstabwehr und Legitimation von Aggression – auch als pathische Projektion bezeichnen: Innerpsychische Konflikte, welche für Individuen nicht aushaltbar oder integrierbar sind, werden in die Außenwelt verlagert und können so leichter ertragen werden.
Warum hängen Menschen diesen Theorien an und/oder verbreiten sie?
Neben den bereits genannten Funktionen kommt die Möglichkeit hinzu, sich als Teil einer größeren Gruppe zu erleben oder sie tatsächlich zu bilden: Vereinfacht gesagt setzen sich Gruppen aus Menschen zusammen, die mit ein und demselben Ideal, ein und derselben Norm oder Weltsicht identifiziert sind. Wächst die Bedrohungswahrnehmung, hilft diese Gruppenbildung gegenüber dem Ohnmachtserleben – übrigens auch in einem positiven Sinne: Wenn nicht gleichzeitig die Realität verzerrt werden muss, werden wir dadurch als Menschen auch gemeinsam handlungsfähig, können gemeinsam soziale Ziele erreichen.
Wie wird negiert, dass ein Großteil der Wissenschaftler*innen und Expert*innen eine komplett andere Sicht vertritt?
Der psychoanalytische Sozialpsychologe Hans-Martin Lohmann hat die Metapher verwendet, der Mensch sei ein wünschendes Tier. Allerdings wird der Wunsch, als Vater des Gedankens, oft verleugnet. Und wie bei Ödipus in der griechischen Mythologie wird auch dieser Vatermord mit Blindheit gesühnt. Oder weniger akademisch: Das eigene Bedürfnis, die Welt so zu sehen, wie man sie haben möchte, setzt sich gegen die besseren Argumente durch.
Sie sagen, dass eine Verschwörungsmentalität Sicherheit verspricht – wie passt das zusammen?
Das klingt paradox, ist aber im Grunde einfach, denn das Phantasma einer weltweiten Verschwörung finsterer Mächte bringt ja nicht erst die Bedrohung in die Vorstellungswelt des Einzelnen. Das innere Bedrohungserleben war schon da – die Ideologie liefert die Chance, diesen psychischen Druck zu entlasten: Nun weiß man, wer der „Feind“ ist und kann die Spannung in Gegenstrategien abführen.
Unterscheiden Sie zwischen Berichten in alternativen Medien und Verschwörungstheorien? Es halten sich zum Beispiel die Behauptungen, es würde nur Panik verbreitet – die Fallzahlen steigen doch, weil mehr getestet wird oder, dass das Virus in einem Labor in Wuhan extra gezüchtet wurde.
Tatsächlich müssen wir in der gegenwärtigen Situation sehr vorsichtig sein. Es ist ja auch eine Tendenz feststellbar, kritische Stimmen nicht mehr wahrzunehmen oder sie zu denunzieren. Ich erinnere mich an eine Reaktion auf die Stellungnahme des Weltärztpräsidenten Frank Ulrich Montgomery zur Maskenpflicht vor wenigen Tagen. Er brachte seine Kritik an dieser Entscheidung zum Ausdruck und erntete teilweise sehr herabsetzende Reaktionen, die seiner Argumentation oft inhaltlich nicht viel entgegenzusetzen hatten. Dabei ist die Lage sehr durch Unwissen geprägt und es ist wichtig, dieses Unwissen auch mitzuformulieren. Auch der Wunsch nach einer Autorität, die einem sagt, was richtig und falsch, was notwendig und geboten ist, entspringt dem Wunsch nach Sicherheit – einer autoritären Sicherheit, die durch Konventionen Leitplanken liefert und als Kehrseite die autoritäre Aggression gegen „Abweichende“ hat.
Vermutlich sind deshalb auch momentan so viele damit beschäftigt, sich Masken zu basteln: Unsicherheit kann in eine konkrete Handlung abgeführt werden, man ist nicht hilflos und hat einen Orientierungspunkt. Wichtig an dieser Reaktion hier ist: Es gibt einen Bezug zur Realität, denn das Virus existiert und ist sehr aggressiv. Es kommt aber darauf an, nicht über den Wunsch nach Sicherheit und Autorität die Unsicherheit zu verleugnen.
Gradmesser für diese Verleugnugn sind die manchmal auch zu beobachtenden, eruptiven Aggressionen gegen Menschen, die sich nicht angepasst verhalten. Mit anderen Worten gibt es auch einen Zusammenhalt, der nicht demokratisch ist, weil auf die öffentliche Verhandlung verzichtet wird, auf das Abwägen verschiedener Positionen, eben auf die deliberative Demokratie. Deshalb beobachte ich die gegenwärtige Entwicklung mit Sorge: „Alternativlos“ ist nur eine andere Formulierung für „Keine Wiederrede“.
Viele rechte Gruppierungen pushen bestimmte Verschwörungstheorien. Warum tun sie das? Was wollen sie erreichen oder wie nutzen sie Corona jetzt für sich? Sehen sie jetzt den Zeitpunkt gekommen, das System umzustürzen?
Verschwörungsideologien befriedigen immer ein Bedürfnis, auch bei extrem Rechten. Ein Politiker wie Björn Höcke zum Beispiel glaubt ja selbst an sein Weltbild. Verfolgen wir Verschwörungsideologien auf Foren wie 8kun.top oder in den Kommentarspalten mancher Zeitungen, fällt zum Beispiel die Idee auf, dass eine bisher im Hintergrund wirkende gute Macht in eine Entscheidungsschlacht gegen das Böse eintritt. Ich denke dabei an die Bewegung der QAnons, die auch in Deutschland Anhänger hat. Man merkt hier, dass es auch einen kulturellen Referenzrahmen gibt, mit Krisen umzugehen und einer ist die Phantasmagorie der Apokalypse – einer reinigenden Endschlacht, bevor das Paradies kommt.
Sie sprechen von einem Bedürfnis, welches durch die autoritäre Dynamik und die Verschwörungsmentalität befriedigt wird. Welches ist das?
In Bezug auf die Corona-Krise wird diese Frage erst mit einem gewissen Abstand und auf Grundlage von empirischen Untersuchungen wirklich zu beantworten sein. Einen Anfangsverdacht kann man aber schon formulieren: Nicht unerheblich dürfte das Motiv der Abgrenzung sein. Der Historiker Étienne Balibar hat schon Anfang der 1990-Jahre darauf hingewiesen, dass die Grenze einer Nation auch eine psychische Grenzziehung für die Gesellschaftsmitglieder gestattet. Wir wissen aus unserer Forschung – etwa zur politischen Dynamik in der Stadt Leipzig – dass es zu einer „Verräumlichung“ von psychischen Konflikten kommen kann: Was an Ängsten, Unsicherheiten und Ambivalenzen nicht auszuhalten ist, wird nach außen projiziert. Mir fällt auf, dass wir gegenwärtig eine Situation haben, wie sie von der extremen Rechten 2015 gefordert wurde, denn die Grenzen sind nun geschlossen. Damals wurde etwa von einer prominenten Parteivertreterin vom Schusswaffengebrauch an der Grenze deliriert, dem wollten zwar einige, aber doch die wenigsten Wähler*innen folgen. Die Solidarität war größer als der Wunsch nach einer Abgrenzung. Unter dem Vorzeichen von Corona lässt sich beides realisieren: Man kann scheinbar sogar unter dem Vorzeichen der Solidarität mit den Schwächsten in der Gesellschaft, den sogenannten Risikogruppen, für eine klare Grenzziehung plädieren. In dieser Richtung ließe sich das Bedürfnis womöglich aufklären, besonders wenn man bedenkt, dass die Globalisierungseffekte der Entgrenzung des Alltags bei vielen Anhängern und Anhängerinnen der AfD wahlentscheidend waren, wie eine repräsentative Untersuchung der Böckler-Stiftung zeigt. Hierzu passt auch die soziale Isolation und die bereitwillige Übernahme der Maske: Man grenzt sich nicht nur körperlich, sondern auch psychisch gegenüber dem Bedrohlichen ab.
Halten Sie es für legitim, sich abseits der „Mainstream-Medien“ über die Lage zu informieren?
Je breiter Medien genutzt werden, je mehr Standpunkte mit in die Betrachtung einbezogen werden, umso besser. Wir wissen aus unseren Studien, dass das Vertrauen durch ein Mehr an Informationen steigt – wenn sie aus Zeitungen und dem öffentlichen Rundfunk bezogen werden. Aber an die Adresse dieser Medien gerichtet auch noch ein Wort: es kommt auch auf die Diskussion an, denn deliberative Demokratie und das heißt in der Praxis, abwägen, Argumente austauschen, gemeinsam überlegen. Das kommt gegenwärtig etwas zu kurz und liegt tatsächlich auch in der Verantwortung der Medien, sie beschränken sich momentan zu sehr auf die Begleitung der Krise, während die kritische Kommentierung wenig Raum hat. Dabei passiert derzeit auch viel, was die Weichen für die nächsten Jahre und Jahrzehnte stellt – ich denke z.B. an die Zukunft der EU. Das gerät aus dem Blick.
Wie informieren Sie sich persönlich über die Corona-Krise?
Wir haben die Süddeutsche Zeitung im Abonnement und die Wochenzeitung Der Freitag, regelmäßig nutze ich die Online-Angebote der Frankfurter Allgemeinen und des Spiegels. Zudem erhalte ich über E-Mail-Diskussionsgruppen (etwas antiquiert, ich weiß) immer wieder Scans aus der New York Times, der taz oder der NZZ.