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Die Corona-Pandemie bildet eine Zäsur zwischen unterschiedlichen Raumordnungen, schreibt Professor Matthias Middell. Gegenüber einer neoliberalen Version von Globalisierung scheint aktuell der Regionalismus zu gewinnen.

Am ReCentGlobe arbeiten mehr als 200 Mitarbeiter*innen zusammen und untersuchen, ausgehend von einem handlungs- und akteurszentrierten Ansatz, Globalisierungsprojekte der Gegenwart und Vergangenheit. An dieser Stelle kommen jede Woche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Zentrums zu Wort, geben Einblicke in ihre Forschung und treten miteinander in eine Debatte.

Die Corona-Krise fordert ganz unterschiedliche Deutungen heraus, nachdem die gravierenden Folgen des Lockdown und die fortbestehende Gefährdung durch das bislang impftechnisch nicht einhegbare Virus ebenso zu überschauen sind und die Frage nach den Folgen eine breite gesellschaftspolitische Debatte ausgelöst hat.

Nutzt man das Kategorienarsenal, das der SFB 1199 „Verräumlichungsprozesse unter Globalisierungsbedingungen“ in den letzten Jahren entwickelt hat, zeichnet sich die Corona-Krise als eine Zäsur zwischen unterschiedlichen Raumordnungen und damit als ein Moment der Neuverhandlung über das Zusammenspiel von Raumformaten ab. Sie erinnert dabei durchaus an Situationen wie die im Zeitalter der atlantischen Revolutionen 1776-1826 oder am Ende des 1. oder 2. Weltkriegs bzw. um die Jahre 1989/91 – die jeweils neuen Raumformaten zum Durchbruch verhalfen oder ihnen eine zentrale Position in den globalen Raumordnungen verschafften. Man denke an die Etablierung des Nationalstaates mit imperialem Ergänzungsraum im Gefolge der Revolutionsära, an das Entstehen und Vergehen der Blockarchitektur des Kalten Krieges und die Emergenz einer bestimmten Form globaler Verflechtung in den 1990er Jahren.

Rückkehr des starken Staates
Dabei zeichnen sich solche Momente der Neuverräumlichung durch ein hohes Maß an Kontingenz aus und die einzelnen Dimension des Wandels unterliegen einem je eigenen Rhythmus – dies macht es durchaus schwer, verschiedene Entwicklungen ohne weiteres auf einen Nenner zu bringen.

In einem Beitrag für den Trafo-Blog https://trafo.hypotheses.org/23960 habe ich einige dieser Entwicklungen skizziert und fasse sie hier noch einmal zusammen:

Insbesondere in den ersten Wochen energischer Einschränkungen der Bewegungsfreiheit in den Pandemie-Gebieten von Wuhan bis Bergamo legten vor allem die These einer Rückkehr des starken Staates nahe, der sich als wirksamster regulatorischer Rahmen erwies, wenn auch mit massiven Kollateralschäden für transnationale Verflechtungen. Dies hat viele Kommentatoren dazu geführt, die Corona-Krise als den letzten Sargnagel neoliberaler Deregulierung anzusehen. Allerdings zeigt der weltweite Vergleich, dass beileibe nicht alle Staaten über die Möglichkeiten verfügen, die Krise allein zu bewältigen.

Regionalismus als Raumformat der Zukunft
Regionalismus hat deshalb seine Karriere als attraktives Raumformat fortgesetzt und insbesondere in Afrika die Hoffnungen auf hinreichende Resilienz auf sich vereinigt. Nachdem anfangs in Europa eher Skepsis hinsichtlich der Reaktionsfähigkeit und sogar der Überlebenschancen der EU—Institutionen bestand, zeichnen sich inzwischen gewaltige Wiederaufbauanstrengungen mindestens finanzieller Art ab, die auch hier den Regionalismus als Raumformat der Zukunft erscheinen lassen. Dies geht zuweilen einher mit einer Absage an eine planetarisch gedachte Globalisierung, die vielen inzwischen als zu wenig kulturell verankert gilt und an Resilienz gegenüber Pandemien und globalen Konflikten zu wünschen übrig lässt.

Transregionale Wertschöpfungsketten haben massiv unter dem Lockdown gelitten, vielleicht am offensichtlichsten ablesbar am weitgehenden Zusammenbruch des Flugwesens, während weder die Containerflotte noch die Eisenbahnen einen vergleichbaren Stillstand erlebt haben, von den Datennetzen ganz zu schweigen, die an Attraktivität erheblich gewonnen haben. Allerdings zeichnet sich eine (schon seit 2010 laufende) Verkürzung der Ketten ab, in denen der Grenznutzen von Kostenersparnissen durch die stete Erweiterung auf neue Billiglohnländer gegen das Risiko ihrer mitwachsenden Fragilität abgewogen wird.

Während manche schon wieder von Deglobalisierung sprechen und damit die Vorstellung eines wellenförmigen Auf und Ab einer homogen gedachten Globalisierung insinuieren, zeigt eine Analyse der Corona-Krise als Moment der Neuveräumlichung vielmehr, dass ein bestimmter Typ von Globalisierung an Glanz verliert und andere Globalisierungsprojekte in den Vordergrund drängen. Dass sich China auf dem jüngsten WHO-Gipfel offensiver als Schutzmacht der Pandemie-Opfer zu Wort gemeldet hat und dass das europäische Modell der Pandemie-Bekämpfung du des Wiederaufbaus international besonders aufmerksam beobachtet wird, lässt sich als Signal für diesen Wandel lesen.