Im September 2011, anlässlich des zehnten Jahrestages der Anschläge von New York, entsandte der amerikanische Fernsehsender PBS einige Reporter ins südliche Afghanistan. Sie sollten der Frage nachspüren, was 9/11 für die afghanische Bevölkerung bedeute. Immerhin legitimierte das Ereignis die militärische Präsenz der US-Truppen im Land. In ländlichen und urbanen Gebieten des zentralasiatischen Landes präsentierten sie Bilder der attackierten Twin Towers. Dabei stellte sich heraus, dass mit einer einzigen Ausnahme keiner der Befragten von diesem Ereignis jemals etwas gehört hatte.
Dass die Terroraktionen des 11. September 2001 sich an eine „Weltöffentlichkeit“ gerichtet haben, gilt in unseren Breitengraden bis heute als eine ausgemachte Tatsache. Schien doch unserem subjektiven Empfinden nach an diesem Tag die ganze Welt vor dem Fernseher gesessen zu haben. Doch stellt sich die Frage, was wir uns unter einer „Weltöffentlichkeit“ überhaupt vorzustellen haben. Fällt schon darunter, wenn man eine Vorstellung seiner Umwelt nährt, die über das Bekannte hinaus auch das Unbekannte mit einschließt? Oder geht es vielmehr um die Annahme, es gebe Dinge, die alle Menschen angehen und infolgedessen auch von allen registriert werden müssten?
Hier sei historisch etwas ausgeholt: Natürlich hielten schon die Griechen und die Römer das Mittelmeer für „die Welt“ als solche. Die Reste jenseits des eigenen Gesichtskreises waren bestenfalls peripher. Analogien dürften sich für die Chinesen im Fall Ostasiens, die Inkas im Fall Südamerikas oder die Sami im Fall des Polarkreises finden lassen. Von einer objektivierten „Weltöffentlichkeit“ wird man aber frühestens reden wollen, wenn diese Welt geographisch und technisch als „erschlossen“ gelten kann. Hier gilt aber bis heute, dass Vorstellungen von „Welt“ oft schon in sehr frühen Stadien tatsächlich praktizierter Öffentlichkeiten genährt wurden. Deshalb war etwa im 18. Jahrhundert in der transatlantischen Region des sogenannten „Westens“ schon viel von der „Welt“ als Fluchtpunkt die Rede. Auf sie schien sich alles zuzubewegen. Und sie schien vielen Zeitgenossen in absehbarer Zeit von einer Population aufgeklärter Kosmopoliten bewohnt zu werden.
Das war eine durchaus subversiv gemeinte Wunschvorstellung. Sie stellte eine globale Sphäre des vermeintlich barrierefreien Kommunizierens gegen jede Art von Öffentlichkeit, die sich am nächstgelegenen Kirchturm orientierte. Und sie lebte von der Annahme, es gebe so etwas wie eine kollektive Vernunft, die sich etwa in der Gestalt internationaler Organisationen äußerte. Die hierzu komplementäre Vorstellung war die eines Weltstaates, am besten sogar mit einer Weltregierung, die letztlich einen „ewigen Frieden“ (so Immanuel Kant) herzustellen vermag.
Ihr beigeordnet war so etwas wie eine Weltmeinung, die auf die Einhaltung von Menschenrechten dringt. Eine erste transnationale Bewegung in diesem Sinne bildeten etwa die Abolitionisten. Sie setzten zum ersten Mal auf eine World Public Opinion und praktizierten eine Strategie, die man heute Public Diplomacy nennt. Um bestimmte Ziele zu erreichen, sollten die Köpfe und Herzen möglichst vieler Menschen beeinflusst werden. Dazu wurden durchaus „Pressekriege“ (Dominik Geppert) angezettelt, zu deren prominentester Émile Zolas Intervention in der Dreyfus-Affäre gehörte, der Artikel ‚J’accuse!’ von 1898. Mit ihm trat der moderne Intellektuelle auf den Plan, der beanspruchte, neben der entstehenden vierten Gewalt der Presse eine zusätzliche Kontrollfunktion zu herrschenden Mächten auszuüben und hierzu den gezielten Appell an eine möglichst breite Öffentlichkeit zu nutzen. Dass zur gleichen Zeit mit den antisemitischen „Protokollen der Weisen von Zion“ auch das Modell für vermeintliche „Weltverschwörungen“ aufkam, die innerhalb klandestiner Öffentlichkeiten zirkulieren, ist sicher kein Zufall.
Die Antisklaverei-Bewegung blieb in ihrer internationalen Reichweite lange beispiellos, bis sie zu Anfang des 20. Jahrhunderts mit den Diskussionen um die sogenannten „Kongo-Gräuel“ wiederauflebte. Die Aufdeckung der Untaten in der Privatkolonie des belgischen Königs mündete in einen vornehmlich im Westen Europas und den USA geführten publizistischen Feldzug, mit dem die brutalen Ausbeutungsmethoden der Handlanger Leopolds II. in Zentralafrika skandalisiert wurden. Schätzungen zufolge waren der Gier nach Elfenbein und Kautschuk bis dahin schon fast zehn Millionen Menschen zum Opfer gefallen. Solche Bewegungen wurden zu prägenden Mustern für die Soft Power öffentlichkeitswirksamer Kampagnen in den kommenden Jahrzehnten.
Wie wenig global die Welt noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts gewesen war, hatte etwa der gewaltige Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien im Jahr 1815 gezeigt. Ereignisse von tatsächlich weltweiter Bedeutung konnten damals noch kaum als solche wahrgenommen werden, allenfalls mit einer starken zeitlichen Verzögerung. Denn es fehlten noch technische Voraussetzungen wie die Telegraphie oder Instanzen wie die global operierenden Nachrichtenagenturen (Reuters, Wolff’sches Telegraphenbüro, Agence France Press usw.), die sich erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts etablierten. Sie erst stellten potentiell so etwas wie einen weltweiten Nachrichtenraum her. Die Netze der Information wurden nun immer dichter und schneller.
Dieser Nachrichten-Raum besaß aber vorerst eine stark westliche Schlagseite. Zwar waren nun Botschaften, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts oft mehrere Monate gebraucht hatten, um ans Ziel zu gelangen, an dessen Ende nur noch wenige Minuten unterwegs. Doch konnten die von überall her eingesammelten Informationen noch lange nicht global verteilt werden. Vielmehr bildeten sich Teil-Öffentlichkeiten heraus, die aber schon für sich beanspruchten, global repräsentativ zu sein. Dazu gehörten auch die seit 1851 regelmäßig stattfindenden Weltausstellungen oder die Operationsfelder der internationalen Organisationen. Beides durchlief in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geradezu heroische Zeiten.
Mit dem Völkerbund in Genf entstand im Jahr 1920 eine Art von Weltparlament. Es steht bis heute in keinem guten Ruf und gilt zumindest politisch als gescheitert. Als 1935 der äthiopische Kaiser Haile Selassie dort wegen des italienischen Überfalls auf sein Land eindringliche Appelle an „die Weltöffentlichkeit“ richtete, hatte er damit keinen Erfolg. Aber er prägte eine wiederkehrende rhetorischen Figur aus, die sich auf die Vorstellungen der europäischen Aufklärer berief: den Hinweis auf einen Missstand oder ein Verbrechen, der in Erwartung des moralischen Aufschreis eines vermeintlichen „Weltgewissens“ vor dem Forum einer Weltöffentlichkeit präsentiert wird.
Für eher partikular orientierte Deuter des Politischen wie Carl Schmitt verbarg sich hinter der Rede von der „Einheit der Welt“ dagegen ein universaler Herrschaftsanspruch der USA, der von subtilen Interventionen flankiert werde. Das war für die späten 1940er-Jahre sicher keine ganz abwegige Diagnose. Auch die Nürnberger Prozesse werden inzwischen als ein Appell des „Westens“ an die Weltöffentlichkeit gedeutet, dass man nicht ungestraft gegen seine Werte verstößt. Gleichwohl zeichneten sich hier Umrisse eines Völkerstrafrechts ab, das natürlich auch auf Erfahrungen wie die Kongo-Gräuel, den Massenmord der Jungtürken an den Armeniern oder den versuchten Genozid an den Herero und Nama Bezug nahm. Und natürlich macht ein solches Recht keinen Sinn, wenn es nicht tatsächlich weltweit zur Anwendung kommt, wenn es keine Möglichkeit zu einer Intervention in nationale Rechtsräume vorsieht und sich dabei auf allgemein gültige Menschenrechte berufen kann. Seit der UN-Menschenrechtskonvention von 1948 sind die auch keine rein westlichen Erfindungen mehr.
Versteht man mit dem Soziologen Rudolf Stichweh Weltöffentlichkeit als eine „kommunikative Fiktion von (...) erheblichem strategischem Gewicht“ sowie als einen „Spiegel 2. Ordnung“, der die Sphäre des Staates kontrollieren soll, dann ist bis heute die Frage, wo sich eine solche Öffentlichkeit eigentlich herstellt. Die Vereinten Nationen als zweiter Versuch eines Weltparlaments oder der UN-Sicherheitsrat funktionierten nicht wie erhofft, weil sich ständig globalstrategische oder partikulare Interessen dazwischenschoben. Ob der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag diese Rolle als „Weltpranger“ dauerhaft einnehmen kann, ist noch offen. Immerhin zieht es dem insgesamt fragmentarisch gebliebenen Völkerrecht Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Einzelnen ein und lässt insofern eine neue Qualität erahnen. Das Gleiche gilt seit einigen Jahren für das Prinzip der „Responsibility to Protect“ bei Verstößen gegen die Humanität.
Das Bewusstsein der „einen Welt“ wurde aber in der Nachkriegszeit vor allem durch die bedrohliche Existenz von Atomwaffen befördert. Das Zeitalter des Kalten Krieges war von der Gewissheit überwölbt, dass die Menschheit dazu in der Lage ist, sich selbst restlos zu vernichten. Auch Kritiker der Kernwaffen wie Albert Einstein oder Albert Schweitzer appellierten daher an ein imaginäres „Weltgewissen“. Nicht zuletzt versuchte die sogenannte „Dritte Welt“, die Soft power der Weltöffentlichkeit für ihre Belange zu nutzen. Es blieb ihr, wie schon Haile Selassi erfahren hatte, auch wenig anderes übrig. Daher kämpfte etwa die Bewegung der Bündnisfreien Staaten jahrzehntelang vergeblich um eine globale Nachrichtenordnung, die ihre westliche Schlagseite überwindet. Denn auf den Ebenen weltweit zirkulierender Informationen gingen (und gehen) die Interessen des Globalen Südens notorisch unter.
Weltöffentlichkeit war und ist natürlich auch ein Problem der Sprachen. Nach dem Latein als Gelehrten- und dem Französischen als Diplomatensprache ist heute eine Schmalspur-Version des Englischen zur globalen lingua franca geworden. Dabei weiß man sich in der Regel durch ritualisierte Brocken an Konversation und an Gestik zu behelfen. Oder man greift zurück auf das, was der Züricher Historiker Harald Fischer-Tiné einmal „pidgin knowledge“ genannt hat. Damit ist eine sehr flexible Art von Kontakt-Wissen gemeint, das sich aus kulturell unterschiedlichen Ressourcen speist. Ansätze des frühen 20. Jahrhunderts, neutralere Weltsprachen wie Esperanto oder Volapük anzubieten, haben sich bis heute nicht durchsetzen können.
Wesentlich für die Idee der Weltöffentlichkeit waren aber vor allem die technisch-medialen Möglichkeiten. „Weltumspannend“ im potentiellen Sinn waren schon der Telegraph und der Rundfunk gewesen. In den 1950er Jahren kam die Übertragung von Bildern als neues Medium hinzu. Bei den Krönungsfeierlichkeiten für Elisabeth II. im Jahr 1952 soll erstmals ein weltweites Publikum vor den Fernsehschirmen gesessen haben. Seit den 1960er-Jahren haben Satelliten den Transfer von Informationen weiter beschleunigt. Das galt aber vorerst nur in Richtung des Empfangs, nicht der medialen Rückkoppelung. Daher wird man selbst im Fall der Übertragung der ersten Mondlandung im Juli 1969 noch von einer Teil-Öffentlichkeit sprechen müssen.
Auch das Internet wird seit vielen Jahren als die ultimative Voraussetzung für eine interaktive Weltöffentlichkeit gefeiert. In der Praxis hat es sich eher als eine sehr fragmentierte Vermaschung von Informationspartikeln erwiesen. Zudem ist es von dunklen Netzen durchwirkt und erzeugt bislang vor allem Informationsblasen. Ein homogenes globales Bewusstsein ist aus dem Netz bisher nicht erwachsen.
Wer spricht also im Namen der Weltöffentlichkeit? Neben einigen Intellektuellen haben weiterhin vor allem Journalisten oder Publizisten für sich beansprucht, stellvertretend für fiktiv bleibende Öffentlichkeiten eine kritische Kontrolle der Macht auszuüben. Auch professionelle Meinungsforschungsinstitute gibt es durchaus schon auf transnationaler Basis, etwa seit 1973 als „Eurobarometer“, aber längst nicht auf einer globalen. Daher spiegeln wir uns bis heute immer nur wieder in den Meinungen derer, die sich halbwegs „identisch“ miteinander fühlen.
Daneben gibt es einige Tausend amtliche sowie einige Zehntausend nichtamtliche internationale Organisationen. Auch sie adressieren ihre Meinungen oft an eine wie auch immer geartete „Weltöffentlichkeit“ und reklamieren zugleich, in ihrem Namen zu sprechen. Oft ist dies verbunden mit der Redewendung, dass diese Weltöffentlichkeit schweige oder wegschaue, während im Sudan, in Osttimor oder in Burma Tausende von Menschen leiden müssten.
Wenn man den Gewalttourismus einmal abzieht, gilt dieser Modus der Mobilisierung sicher auch für die G 20-Proteste oder andere globalisierungskritische Bewegungen der letzten Jahre. Sie zielen auf eine maximale Wirkung in den internationalen Medien ab. Meist verweisen die Akteure darauf, dass man aus einem Wissen, das auch jenseits der eigenen Aufmerksamkeits-Horizonte reicht, Konsequenzen ziehen müsse. So ist es beispielhaft in Bezug auf Papst Pius XII. und sein vermeintliches Wissen um Auschwitz diskutiert worden, aktueller in Bezug auf das vermeintliche „Versagen“ der Weltöffentlichkeit beim Völkermord in Ruanda oder dem Massaker im bosnischen Srebrenica.
Im Juli 1985 prägte das parallel in London und Philadelphia stattfindende Live-Aid-Konzert wiederum eine neue Form der globalen Benefizveranstaltung aus. Das weltweit adressierte Publikum wurde auf rund anderthalb Milliarden Zuschauer geschätzt. Fernsehquoten sind aber oft von Wunschdenken begleitet. Wenn man neben den Olympischen Spielen auch andere Sportereignisse, namentlich des Fußballs, als globale Medienereignisse adressiert – die Spiele 2012 in London sollen sogar von etwa 70 Prozent der Weltbevölkerung verfolgt worden sein –, dann ist man bei Varianten von Weltöffentlichkeiten, die man vielleicht nicht auf Anhieb mit einem moralischen Anspruch identifiziert.
Gemeint ist unter anderem der sogenannte Consumer Cosmopolitanism, also die weltweite Konvergenz von Konsummustern und von Geschmacksorientierungen. Sie wird erzeugt durch eine grenzüberschreitende Werbung und durch Weltmarken, deren kulturelle Konnotationen fast überall auf dem Globus aufgerufen werden können. Hieraus haben sich „virtuelle Geschmacksgemeinschaften“ (Jürgen Osterhammel) entwickelt, etwa die weltweite Community der Wagnerianer, der Ferraristi oder der Verehrer Angelina Jolies.
II.
War der 11. September 2001 nun ein transnationales Medienereignis? Für diejenigen, die einen Zugang zu Nachrichtenmedien besaßen, war es sicher – trotz der relativierenden Befunde aus Afghanistan – eine kommunikative Verdichtung über nationale und mediale Grenzen hinweg. Der ikonischen Suggestion konnte sich niemand entziehen, der damit konfrontiert wurde.
An diesem Tag trafen die systemische und die symbolische Kritikalität von modernen Infrastrukturen paradigmatisch aufeinander. Bei dem Angriff handelte es sich um ein Übersteigern aller Desaster-Filme, die Hollywood sich bis dahin ausgedacht hatte. Es war eine Synthese sämtlicher Befürchtungen, die man in Bezug auf Flugzeuge, Untergrundbahnen, Aufzüge, Hochhäuser und andere Orte zu mobilisieren vermag. Dabei zielten und zielen die Terroristen nicht unbedingt auf die Anzahl der Opfer ab – obgleich hier inzwischen bei Attentätern ein morbider Wettbewerb greift. Vielmehr geht es um die Fanalwirkung des Anschlags mit seiner maximierenden Wirkung auf die gesellschaftliche Verunsicherung.
Dass die Anschläge von 2001 mit Flugzeugen verübt wurden, ist sicher kein Zufall. Schließlich handelt es sich um die Verkehrsträger mit dem größten Verunsicherungsfaktor bei den Passagieren. Aber Flugzeuge sind auch Pioniereinrichtungen einer anonymisierenden und egalisierenden Weltkultur, wie sie vor allem an den Nicht-Orten des internationalen Verkehrs entstanden ist. Die setzt vor allem auf eine standardisierte und transkulturell verständliche Zeichensprache.
Diese Verunsicherung verfängt natürlich schon aus diesem Grund nicht weltweit. Wer noch nie mit einem Flugzeug geflogen ist, Untergrundbahnen und Hochhäuser nicht kennt, wird auf 9/11 anders reagiert haben als die meist urbane Schicht des globalisierten jet set oder der „Anywheres“ (David Goodhart). Es ist schon viel darüber gerätselt worden, welche Bedeutung dem Fernsehen und anderen Medien dabei zukam, dass hier Bilder geschaffen wurden, die sehr unterschiedlich ausgedeutet werden konnten und sollten. Das Ereignis richtete sich an eine Vielzahl von „global publics“ und war von Vornherein nicht darauf aus, einen einheitlichen Raum der globalen Urteilsbildung zu adressieren.
Wie jüngere Forschungen dargestellt haben, ist der Terrorismus von seinem Beginn in der Mitte des 19. Jahrhunderts an als Akt der Kommunikation mit nationalen, aber auch internationalen Öffentlichkeiten zu verstehen. Das bringt das Dilemma mit sich, dass die Berichterstattung über eine solche Tat die gleiche Relevanz wie die Tat selbst besitzt und man sich medienkritisch seither immer wieder fragen muss, ob man den Tätern durch die Berichterstattung nicht in die Hände spielt.
Das wird natürlich auch für den umgekehrten Fall diskutiert, wenn einem Ereignis oder einer Person eine „weltweite“ Prominenz zugeschrieben wird, die sie von sich aus nicht haben. Der amerikanische Historiker Daniel J. Boorstin hat diese sogenannten „Pseudo-Ereignisse“ schon 1962 als Bestandteil einer systematisierten Aufregungsindustrie analysiert. 30 Jahr später beschrieben Daniel Dayan und Elihu Katz Medienereignisse als eine „Live-Übertragung von Geschichte”. Das traf im Fall von 9/11 aber wohl vor allem auf westliche Zuschauer und zudem auf solche zu, die es sich leisten konnten, schon tagsüber Fernsehen zu schauen.
Was wohl eher zutraf war die Definition als „absolutes“ Ereignis, wie der französische Philosoph Jean Baudrillard den 11. September einmal charakterisierte. Damit sind solche Begebenheiten gemeint, denen Potentiale einer tiefgreifenden Wandlung zugesprochen werden, die sich jedoch zugleich der Analyse versperren. „Zeitlichen Nullpunkte“ wie diese werden anschließend fortlaufend durch Erzählungen überformt und begrifflich verdichtet und so schrittweise zu ikonischen Ereignissen. Wie das Beispiel des Holocaust zeigt, hängt dieser Selektions- und Semantisierungsprozess keineswegs an einer weltweit synchronen Berichterstattung, sondern entfaltet sich unter Umständen über Jahrzehnte hinweg.
An den Twin Towers entstand vielmehr, um ein suggestives Bild zu gebrauchen, eine babylonische Sprachverwirrung. Jeder Zuschauer las in den Vorfall etwas anderes hinein oder heraus, gerade weil es so viele Filmaufnahmen dazu gab. Aus deren Unstimmigkeiten konnte man zugleich die krudesten Verschwörungstheorien basteln. Auch die stellen eine erzählerische Konstruktion dar, die durch den ständigen Bezug auf die Welt als ganzer ihre Bedeutsamkeit steigert. Wie wir heute wissen, florieren solche Erzählungen in den segmentierten Öffentlichkeiten der sozialen Medien besonders gut.
Das postmoderne Spiel mit Fakten und Fiktionen setzte sich 2003 im Irakkrieg weiter fort. Mehr denn je zuvor wurde über dessen Sinn und Unsinn weltweit öffentlich diskutiert, mehr denn je schien eine fiktive Weltöffentlichkeit in Stellung gegen das unilaterale Handeln der USA gebracht werden zu müssen, so dass die New York Times am 17. Februar 2003 schrieb: „There may still be two superpowers on the planet: the United States and world public opinion.“
III.
Weltöffentlichkeiten mögen technisch potentiell zwar möglich sein. Sie werden aber bislang allenfalls segmentär und von kleinen Minderheiten erlebt. Anlässe, Motive und Wege für die Herstellung transnationaler Kommunikationsgemeinschaften gibt es zahlreiche. Oft werden sie vorschnell einer „Weltöffentlichkeit“ zugeschrieben, weil sie von ihren Vertretern subjektiv für so bedeutsam gehalten werden, dass scheinbar nichts Wichtigeres denkbar ist. Die Subjektivität solcher Wahrnehmungen wird schon seit langem in der Redewendung ironisiert, jemand sei an einem bestimmten Ort oder in einer bestimmten Region für „weltberühmt“ gehalten worden.
Ein Großteil der Menschheit will aber vermutlich gar nicht weltweit informiert sein und hält solche moralischen Fluchtpunkte eher für eine Überforderung. Die Dominanz des Regionalen und Lokalen zeigt sich auch darin, dass es nach 65 Jahren europäischer Gemeinschaft noch kaum gelungen ist, eine stabile europaweite Öffentlichkeit herzustellen. Technisch wäre das seit Langem möglich, kulturell bleibt es problematisch, aus den auf sich selbst und das eigene Umfeld bezogenen Aufmerksamkeitshierarchien auszubrechen und ein wirklich „kosmopolitisches“ Bewusstsein zu erzeugen. Hierbei erweisen auch die „Somewheres“ (David Goodhart) ihre Stärke und ihre Beharrungskraft.
Das oft implizit vorausgesetzte – und meist sehr westlich verstandene – „Weltgewissen“ bleibt auch aus diesen Gründen vorerst weiterhin eine Fiktion. Das gilt auch für Versuche wie das Projekt „Weltethos“, mit dem der vor Kurzem verstorbene Theologe Hans Küng nach Überschneidungsfeldern in den Wertvorstellungen der großen Weltreligionen suchte. Drängender wird es sein, ein globales Einvernehmen in Bezug auf Umwelt- und Klimafragen herzustellen, das über den Symbolwert der großen Konferenzen hinausgeht. Derweil haben sich 2021 die alliierten Truppen in einer Art und Weise aus Afghanistan zurückgezogen, von der wir in unserer Betroffenheit erneut annehmen, dies habe „vor den Augen der Weltöffentlichkeit“ stattgefunden.