Hachalu Hundessa (1985-2020) galt in Äthiopien als die musikalische Stimme der seit 2015 andauernden Protestbewegung der Oromo. Im Interview spricht Ulf Engel, Politikwissenschaftler und Professor am Leipziger Institut für Afrika Studien, über die Rolle des berühmten Sängers, seine Bedeutung für die Gesellschaft und die Protestbewegung der Oromo.
Herr Engel, in den Medien wurde Hachalu Hundessa als Aktivist und Freiheitskämpfer bezeichnet. Er gehörte der Volksgruppe der Oromo an. Nachdem er als Jugendlicher auf einer Demo festgenommen wurde, saß er fünf Jahre im Gefängnis [2003-2008]. Welche Rolle nahm Hachalu in Äthiopien ein?
Ulf Engel: Hachalu Hundessa wurde 34 Jahre alt. Am Montagabend, dem 29. Juni 2020, wurde er in seinem Haus in einem Vorort von Addis Abeba von unbekannten Tätern erschossen. Kommentatoren haben sich in den vergangenen Tagen gerne des Bildes bedient, dass er den „Soundtrack“ für die Aufstände der Oromo-Bevölkerung in den vergangenen fünf Jahren geliefert habe. Sein erstes Album erschien 2009, mit Liedern, die er noch im Gefängnis geschrieben hatte. 2015 thematisierte er in seinen Texten die Vertreibungen von Oromo, die am Rande der Hauptstadt Addis Abeba siedelten und einer städtischen Erweiterungspolitik weichen sollten. Später betonte er vor allem, dass es in der Hand eines jeden Einzelnen liege, die politischen Zustände zu verändern. Seine Alben verkauften sich gerade unter der Diaspora in den USA sehr gut. Hachalu selbst sah sich nicht als Politiker und war nicht aktiver Bestandteil der unterschiedlichen politischen Gruppierungen, die die Anliegen der Oromo-Bevölkerungsgruppe artikulieren.[1]
Die Oromo gehören zu den größten Bevölkerungsgruppen in Äthiopien. Mit welchen Problemen sehen sie sich konfrontiert? Wie hängt das mit den Unruhen nach Hachalus Tod zusammen?
Ulf Engel: Die Verteilung der politischen Macht in Äthiopien ist ethno-föderal organisiert. Die „Nationen“ leben in mehreren Teilstaaten oder „Regionen“, die Hauptstadt Addis Abeba ist föderales Territorium, inmitten des Bundesstaates Oromia. Bis Ende letzten Jahres wurde das Land durch eine Vierparteien-Koalition regiert, die Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front (EPRDF). Diese Partei regierte seit 1991 autokratisch und mit überwältigender Parlamentsmehrheit. Innerhalb der Koalition dominierte bislang die Tigray People’s Liberation Front (TPLF), die auch eine der äthiopischen „Nationen“ vertritt, deren Angehörige etwa sechs Prozent der Gesamtbevölkerung von 108 Mio. (2018) ausmachen.
Diskussionen über eine Ausdehnung des Hauptstadtterritoriums – Addis Abeba wächst überproportional und die Bundesregierung wollte Raum für zusätzliche Wohngebiete und Firmen schaffen – haben seit August 2016 dann auch gewaltsame Proteste von Oromo-Gruppen ausgelöst, auf die der Staat zweimal mit der Verhängung eines Ausnahmezustandes reagiert hat. Die Proteste artikulierten rasch ein weites Feld politischer Forderungen, von der politischen Liberalisierung und Freilassung der politischen Häftlinge bis zu inklusivem wirtschaftlichen Wachstum und einem Ende der Korruption. Diese Proteste brachten das öffentliche Leben in Äthiopien zeitweise zum Erliegen.
Aber unter dem jetzigen Ministerpräsidenten Abiy Ahmed ist es doch auch zu politischen Liberalisierungen gekommen?
Ulf Engel: Um die politische Handlungsmacht wieder an sich zu ziehen und die Legitimation der EPRDF zu erhöhen, wechselte die Partei 2018 ihre Führung aus: Auf den unglücklich agierenden Technokraten Hailemariam Desalegn (54) folgte der in Armee und Geheimdienst sozialisierte Abiy Ahmed (43), der zu diesem Zeitpunkt die Oromo Democratic Party (ODP), eine der vier Koalitionsparteien, leitete. In der Folge kam es zwar einerseits zu zahlreichen politischen Reformen und einem Ausgleich mit dem nördlichen Nachbarn Eritrea. Letzteres führte 2019 zur Verleihung des Friedensnobelpreises an Abiy. Andererseits vertiefte sich in der EPRDF aber die Krise zwischen der TPLF und den anderen Parteien. Die innenpolitischen Reformen kamen in den letzten Monaten zum Erliegen.
Im November 2019 einigten sich drei der EPRDF-Teilparteien darauf, eine neue Partei zu gründen, die Prosperity Party. Die TPLF verweigerte sich diesem Schritt. Nachdem die für August 2020 vorgesehenen Parlamentswahlen wegen der Corona-Epidemie auf unbestimmte Zeit verschoben worden sind, will die TPLF die Wahl in Tigray dennoch durchführen. Es läuft auf einen schweren Konflikt hinaus.
In der Vergangenheit gab es Anzeichen dafür, dass unbekannte Kräfte im Land die Politik von Abiy vehement ablehnen: Im Juni 2018 gab es einen Attentatsversuch auf den Premier, im Juni 2019 einen Putschversuch und nach der Ermordung von Hachalu am Montag dieser Woche, sind bei dem angeblichen Versuch von Sicherheitskräften, den Leichnam aus dessen Haus in Ambo, Oromia Region, zu transportieren, dessen Onkel und Polizisten ums Leben gekommen. Insgesamt wurden bis Donnerstagmorgen landesweit mindestens 81 Menschen im Laufe der Proteste getötet. Unterdessen hat Premier Abiy unbekannte „einheimische und fremde Feinde“ beschuldigt, Hachalu umgebracht zu haben, um das Land weiter zu destabilisieren.
2015 entstand die von Ihnen angesprochene Protestbewegung der Oromo in Addis Abeba, die gegen ihre Vertreibung aus der Hauptstadt kämpften. Die Lieder von Hachalu Hundessa wurden, wie Sie sagen, oft als "Soundtrack" der Aufstände bezeichnet. Wie steht es um die Protestbewegung heute?
Ulf Engel: Es handelt sich nicht um eine einheitliche politische Protestbewegung, im Gegenteil. Es gibt mehrere soziale Träger: Studenten in Oromia und Addis Abeba, urbane Jugendliche, Diasporagruppen in Nordamerika und Westeuropa sowie verschiedene legale Oromo-Parteien, aber auch ehemalige und mittlerweile angeblich wieder aktive Befreiungsbewegungen wie die Oromo Liberation Front (OLF). Hinzu kommen prominente Widersacher Abiys, wie der aus dem US-Exil zurückgekehrte Jawar Mohammed (34), den Begründer des Oromia Media Networks und Inspirator der International Oromo Youth Association, der auch als Qeerroo („Jugend“) bekannt gewordenen Jugendbewegung.
Jawar wurde am Dienstag (30. Juni) zusammen mit seiner Entourage verhaftet, als er verhindern wollte, dass der Leichnam von Hachalu in dessen Heimatort nach Ambo (100 km westlich der Hauptstadt) überführt würde. Zusätzlich zum Corona-bedingten lock down befindet sich Äthiopien seit Dienstag auch wieder in einem landesweiten Internet-lock down, eine Praxis, zu der alle Regierungen des Landes in den letzten Jahren gegriffen haben, sobald die Menschen auf die Straßen gegangen sind.
Vielen Dank für das Interview!
Anmerkung: Das Interview wurde am Donnerstag, dem 2. Juli 2020, geführt. Die Nachrichtenlage aus Äthiopien ist uneindeutig.
[1] Um einen Eindruck von seiner auf Afaan Oromoo gesungenen Musik zu bekommen siehe z.B. www.youtube.com/watch oder
https://www.youtube.com/watch?v=Wv3he6CGF3E.
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Blog #19: Why the death of a singer caused unrest in Ethiopia
After the assassination of the popular singer and activist Hachalu Hundessa, more than 80 people died have been killed in country-wide protests. Hachalu was killed Monday evening in Ethiopia’s capital, Addis Ababa.
In this Interview Ulf Engel, a political scientist and a professor of "politics in Africa" at the Institute of African Studies in Leipzig, talks about the role of the famous singer, his significance for society and the protest movement of the Oromo.
Mr. Engel, the media portrayed Hachalu Hundessa as an activist and freedom fighter. He belonged to the Oromo people. As a young man he was arrested at a demonstration and imprisoned for five years (2003–2008). What was his role in the country?
Ulf Engel: Hachalu Hundessa was 34 years old. On Monday evening, 29 June 2020, he was shot by unknown assailants in his house in a suburb of Addis Ababa. During the past days, commentators have often stated that he had provided the “soundtrack” to the Oromo uprisings of the past five years. His first album was launched in 2009, based on songs that he had written while in prison. In these texts, he sung about the displacement of Oromo from the fringes of Addis Ababa, who were the victims of an urban expansion policy. Later he emphasized that it was in everyone’s hands to change political conditions. His albums sold especially well among the diaspora in the United States. He did not see himself as a politician and was not part of organized political groups that articulated Oromo concerns.[1]
The Oromo are the biggest population group in Ethiopia. Which problems are they facing? And how is this week’s popular unrest related to Hachalu’s death?
Ulf Engel: In Ethiopia, political power is organized along ethno-federal lines. “Nations” are governing various federal states, while the capital, Addis Ababa, is federal territory – surrounded by the Oromia region. Until the end of last year, the country was ruled by a four-party coalition, the Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front (EPRDF). The autocratic party assumed power in 1991 and governed on the basis of an overwhelming parliamentary majority. The ruling coalition was dominated by the Tigray People’s Liberation Front (TPLF); 6 per cent of the country’s 108 million people are Tigray.
Discussions on the expansion since August 2016 of the capital’s territory – Addis Ababa is growing exponentially and the federal government wants to make space for new settlements and companies – have led to violent protests of Oromo groups. As a response, the government twice declared a state of emergency. The protests addressed a wide range of political topics, from political liberalization and release of political prisoners to inclusive economic growth and end to corruption. Public life partly came to a standstill.
But Prime Minister Abiy Ahmed introduced some measures of political liberalization, didn’t he?
Ulf Engel: In order to regain political agency and increase the legitimacy of the EPRDF, the party leadership was replaced in 2018: the hapless technocrat Hailemariam Desalegn (54) was replaced by Abiy Ahmed (43), who was socialized in the army and intelligence community and, at that point in time, was leader of the Oromo Democratic Party (ODP), one of the four coalition parties.
Subsequently, on the one hand, various political reforms were introduced and reconciliation with the country’s northern neighbour, Eritrea, was sought. The latter got Abiy the Nobel peace prize in 2019. On the other hand, the EPRDF crisis deepened between the TPLF and the other coalition partners. Domestic reforms came to a standstill.
In November 2019, three of the coalition partners agreed to launch a new party, the Prosperity Party. The TPLF decided not to join the other parties in this move. And after parliamentary elections, originally scheduled for August 2020, were postponed indefinitely because of the Corona pandemic, the TPLF announced that it would go ahead with organizing a poll in the Tigray region. All signals indicate a serious conflict is on the horizon.
In the past, there have been signs that unknown forces in the country are vehemently opposed to Abiy’s policies: an attempt to assassinate the prime minister in June 2018, an attempted coup in June 2019, and after the murder of Hachalu on Monday this week, during an alleged attempt by security forces to remove the body from his home in Ambo (Oromia Region), Hachalu’s uncle and two policemen were killed. In total, at least 81 people across the country were killed in the protests by Thursday morning. Meanwhile, Prime Minister Abiy has accused unknown “domestic and foreign enemies” of killing Hachalu to further destabilize the country.
In 2015, a protest movement by the Oromo emerged in Addis Ababa, which fought against their displacement from the capital. Hachalu Hundessa’s songs became an anthem of the demonstrators. What about the protest movement today?
Ulf Engel: It is not a unified political protest movement, on the contrary. There are several social sources among Oromo protest: students in Oromia and Addis Ababa, urban youth, diaspora groups in North America and Western Europe, as well as various legal Oromo parties, but also former and now supposedly active liberation movements such as the Oromo Liberation Front (OLF). In addition, there are prominent opponents of Abiy, such as Jawar Mohammed (34), who returned from exile in the US. He is the founder of the Oromia Media Network and inspirer of the International Oromo Youth Association, also known as the Qeerroo (youth) movement.
Jawar was arrested along with his entourage on Tuesday (June 30) when he tried to prevent the dead body of Hachalu from being transferred to his hometown in Ambo (100 km west of the capital). In addition to the Corona-related lockdown, Ethiopia has also been back on a nationwide Internet lockdown since Tuesday, a practice that all the country’s governments have resorted to in recent years as soon as people take to the streets.
Many thanks for the interview!
The interview was conducted on Thursday, 2 July 2020. News from Addis Ababa is inconclusive.
[1] To get an impression of his music sung in Afaan Oromoo, see, for instance, www.youtube.com/watch or www.youtube.com/watch.