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In einer neuen Studie haben sich Oliver Hidalgo (Münster) und Alexander Yendell (Leipzig) mit der Rolle religiöser Akteure in der COVID-19-Pandemie auseinandergesetzt. Im Gespräch im ReCentGlobe-Blog erzählen sie von den Ergebnissen und der Hoffnung, dass gerade Angehörige von Religionsgemeinschaften bei der Bewältigung der Krise eine konstruktive Rolle einnehmen.

Religion gilt im Kontext der Coronakrise vor allem als Risikofaktor: Zahlreiche Gottesdienste im In- und Ausland sind als Super-Spreader-Ereignisse in die Schlagzeilen geraten. Ist diese Wahrnehmung zu einseitig?

Oliver Hidalgo: Auf jeden Fall. Dass religiöse Akteure gerade zu Beginn der Pandemie eher negativ auffielen, ist unbestritten. Danach stellten sich jedoch rasch Lerneffekte ein. Länder- und konfessionsübergreifend gelang es den meisten Religionsgemeinschaften, die durch das SARS-CoV-2-Virus entstandene Gefahrenlage angemessen einzuschätzen sowie die eigene Rolle für das Infektionsgeschehen zu begreifen. Mehrere religiöse Gruppen taten sich auch durch innovative Hygienekonzepte und Selbstinitiativen hervor, die die staatlichen Regeln sehr sinnvoll ergänzten. Die Einbindung religiöser Akteure im Kampf gegen die COVID-19-Pandemie gestaltete sich dabei insgesamt deutlich einfacher als wir dies in früheren Gesundheitskrisen mit einer sexualmoralischen Komponente wie HIV/Aids beobachten konnten. So war den meisten religiösen Akteuren leichter klarzumachen, dass das Corona-Virus wirklich jeden betreffen kann – unabhängig von der möglichen ,Sündhaftigkeit‘ des jeweiligen Verhaltens.

 

Hinweis: Am Dienstag, 18.5. Findet von 18-19 Uhr ein Podiumsgespräch zum Thema Live auf youtube Statt.

Also ist die Bilanz unter dem Strich positiv?

Hidalgo: Das sollte man differenziert sehen. Die COVID-19-Pandemie wirkt bei vielen sozialen und politischen Problemen eher als Katalysator, nicht als Ursache. So auch im Hinblick auf das Thema Religion. Dort, wo religiöse Akteure bereits vor Corona einen Unsicherheitsfaktor darstellten, hat sich das auch in der Krise weitgehend bestätigt. In Indien zum Beispiel wurde der traditionelle Konflikt zwischen Hindus und Muslimen weiter angestachelt, indem Vertreter beider Religionsgemeinschaften sich gegenseitig vorwarfen, für die Ausbreitung des Virus verantwortlich zu sein. In Pakistan oder Israel, wo Islamisten und ultraorthodoxe Juden in ihrem Tun vom Staat seit Längerem kaum zu kontrollieren sind, haben sich eben diese beide Gruppen zum Teil vehement gegen die Einhaltung von Abstands- und Hygieneregeln gesträubt. In Brasilien, den USA oder Russland waren es schließlich mit den Pfingstkirchen, den Evangelikalen oder der russisch-orthodoxen Kirche die gleichen religiösen Strömungen, die schon in der Vergangenheit durch ihre Skepsis gegenüber der modernen Naturwissenschaft auffielen. In der Pandemie taten sie sich nun schwer, die Expertise von Virologen und anderen Experten anzuerkennen.

Es war insofern alles andere als ein Zufall, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in einem relativ frühen Stadium der Pandemie am 7. April 2020 spezifische Interimsregeln für Religionsgemeinschaften und glaubensbasierte Organisationen (FBOs) herausgab, im Bewusstsein, dass religiösen Akteuren eine „major role“ zukommt, um Menschenleben zu retten und das Leid der Kranken und Infizierten zu lindern. Entsprechend würdigte die WHO Religionsgemeinschaften nicht nur als „primäre Quelle der Unterstützung, des Trostes, der Orientierungshilfe sowie der direkten Gesundheitsversorgung und des Sozialdienstes“, sondern identifizierte sie auch gerade als diejenigen Gruppen, die es für eine erfolgreiche Eindämmung des Virus dringend zu integrieren galt.

In Ihrer Studie, die Sie gemeinsam mit Carolin Hillenbrand für das IfA-Institut angefertigt habt, vergleichen Sie positive und negative Beispiele, wie sich religiöse Akteure während der Coronakrise verhalten haben. Zu welchen zentralen Einsichten sind Sie dabei gekommen?

Hidalgo: Wir haben die Fragestellung auf unterschiedlichen Ebenen untersucht. Auf der politischen Ebene hing die Bewertung natürlich von der jeweiligen Coronapolitik ab, sodass wir nicht nur die konstruktive Zusammenarbeit zwischen religiösen und politischen Akteuren, sondern etwa auch den Mut gewürdigt haben, wenn – wie etwa in mehreren afrikanischen Ländern – Kirchen quasi gegen den Widerstand der staatlichen Behörden verantwortungsvoll zu agieren versuchten. Auf der Ebene der Organisationen haben wir uns nicht nur die konkreten Maßnahmen religiöser Akteure angesehen, sondern auch, ob sie sich ausschließlich um Mitglieder der eigenen religiösen Gruppe oder um die Gesamtbevölkerung kümmerten. Auf der Ebene der Individuen interessierte uns hingegen in erster Linie, ob ein bestimmter religiöser Glaube den Menschen geholfen hat, mit den physischen und psychischen Belastungen der Krise achtsam und solidarisch umzugehen oder ob er eher dazu geführt hat, negative Emotionen zu verstärken sowie die Angehörigen anderer Religionen abzuwerten.

Was genau haben Sie in Bezug auf bestimmte Glaubensformen herausgefunden?

Alexander Yendell: Zunächst einmal muss man einschränkend sagen, dass die individuelle Religiosität in Bezug auf die Wahrnehmung und den Umgang mit Corona nur einer von sehr vielen Aspekten ist und sicherlich nicht so bedeutend wie die Persönlichkeit, das Level an Angst, die psychische Widerstandsfähigkeit und natürlich in Bezug auf Corona das eigene Gesundheitsrisiko. Nicht zu unterschätzen sind natürlich ebenso die persönlichen sozialen und ökonomischen Umstände. Dennoch spielt auch die Religiosität eine Rolle und zwar dahingehend, dass Menschen positive religiöse Coping-Strategien entwickeln können, die ihnen helfen, mit Unsicherheiten, Belastungen und Stress umzugehen und positive Emotionen wie Hoffnung, Optimismus und Energie zu verspüren. In unserer statistischen Analyse zeigt sich, dass Menschen in Zeiten von Corona tendenziell eher dann Hoffnung und Optimismus verspüren, wenn sie beten, regelmäßig in den Gottesdienst gehen und sich als eher stärker religiös bezeichnen. Allerdings gibt es auch negatives religiöses Coping, etwa, wenn Menschen in Bezug auf Gott Strafe, Angst oder Schuld erleben. Dann sind sie eher nicht optimistisch, fühlen sich einsamer, hilfloser und natürlich ängstlicher. Problematisch ist auch, wenn Menschen ihre Religion für die einzig akzeptable ansehen und Religion für wichtiger als Wissenschaft halten.

Besonders problematisch in Bezug auf die Wahrnehmung ist allerdings der Glaube an Verschwörungsmythen. Menschen mit einem Hang zu Verschwörungsmythen verhalten sich im Durchschnitt deutlich unsolidarischer, indem sie eher gegen die Hygieneregeln verstoßen. Der Hang zu Verschwörungsmythen – auch solchen, die die Coronapandemie zum Inhalt haben –, geht dabei oft mit mangelnder Demokratieunterstützung, Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit einher.

Woher kommt dieser Glaube an Verschwörungen und was genau kann man denn gegen die Verschwörungstheorien machen?

Yendell: Der Glaube an Verschwörungstheorien hat viel mit den aktuellen Lebensumständen von Menschen und vor allem auch mit ihrer Persönlichkeit zu tun  (Dazu mehr im Blog #48). Es handelt sich dabei um Menschen, die ihr Schicksal nicht gerne passiv akzeptieren, sondern die Schuld und Verantwortung proaktiv anderen bspw. geheimen Mächten zuschreiben. Es handelt sich dabei um einen unreifen Versuch, Angst zu bewältigen und Kontrolle zu erlangen. Das gefährliche ist, dass diese Umdeutung der Realität Teil eines autoritären Syndroms ist, in dem oftmals die Abwertung und die Aggression gegenüber Fremden eine Rolle spielt, wie erst jüngst die Leipziger Autoritarismusstudie belegt hat. 

Verschwörungsmythen in der Griff zu bekommen ist schwierig. Man muss sich dem natürlich mit Fakten entgegenstellen und darf diese nicht so stehen lassen. In der Kommunikation mit Menschen, die an Verschwörungsmythen glauben, muss man sich gleichzeitig deutlich machen, dass hinter einem solchen Glauben unbewusste Motive, Impulse, Wünsche und Projektionen stecken, denen man nicht so einfach mit Fakten begegnen kann. Es ist neben dem Setzen von Grenzen wichtig, auf die unbewussten Bedürfnisse und Ängste dieser Menschen einzugehen. Das ist oftmals nur therapeutisch möglich und gelingt dann auch nur, wenn jemand bereit ist, sich auf eine Therapie einzulassen. Religionsgemeinschaften können zwar keine Therapien anbieten , aber in diesem Zusammenhang mit seelsorgerischen Angeboten zur Angstbewältigung der Menschen während der Coronakrise beitragen. Hilfreich ist auch, wenn Mediziner:innen aus den eigenen Reihen einer Religionsgemeinschaft sachlich über die Lage und die Bewältigungsstrategien informieren. Zudem können Mitglieder von Religionsgemeinschaften zur Erlangung von zumindest ein wenig Kontrolle über die Situation aktiv in die Konzeption von Hygienemaßnahmen und anderen Hilfsmaßnahmen eingebunden werden. Solche Maßnahmen gibt es bereits bei Religionsgemeinschaften. Generell gilt allerdings hinsichtlich der Angstbewältigung: Wichtiger als Intervention ist die Prävention. Wir müssen viel mehr in die psychosoziale Gesundheit investieren, damit Menschen schon von Kindesbeinen an psychische Widerstandsfähigkeit erlangen. Auch hier können Religionsgemeinschaften wie auch andere zivilgesellschaftliche Akteure einen wichtigen Beitrag leisten.

Sie haben nicht nur Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Verschwörungstheorien entwickelt, sondern auch  generell Empfehlungen ausgesprochen im Zusammenhang mit Religionsgemeinschaften und dem Umgang mit der Pandemie. Was ist aus Ihrer Sicht wichtig?

Yendell: Religionsgemeinschaften genießen in vielen Ländern hohes Vertrauen in der Bevölkerung. Uns erscheint es daher wichtig, dass bei der Bewältigung der Pandemie eine gute Kommunikation, Kooperation und Koordination zwischen religiösen und politischen Akteuren erfolgt. Religionsgemeinschaften können in Kooperation mit der Politik dabei helfen, sachliche Informationen zu verbreiten und aktiv gegen Fake news und Verschwörungsmythen vorzugehen. Zudem können sie durch interreligiösen Dialog und Werbung für Toleranz Konflikte zwischen Religionsgemeinschaften vermindern. Für die Hilfe, die Religionsgemeinschaften liefern können, braucht es in einigen Ländern auch Geld für konkrete Projekte zur Bewältigung einer Krise wie der Coronapandemie. Das sollten politische Akteure im Blick haben. Kommunikation ist nicht nur einseitig. Die Gesellschaft sollte das zivilgesellschaftliche Engagement und die Hilfe durch Religionsgemeinschaften anerkennen und würdigen.