Mit dem mikrofonschwingenden Roger Daltrey von The Who kann ich zwar relativ eindeutig „My Generation“ als diejenige der in den mittleren 1950er Jahren Geborenen und weitgehend ideologieresistenten Post-68er benennen, aber eine Antwort auf die Frage, wann eigentlich die Globalisierung in mein Leben getreten ist, fällt deutlich schwerer: Als Schüler und Student in der alten Bundesrepublik stellte sich diese Frage zu Zeiten selbst von Ost-West-Konflikt und Vietnamkrieg nicht. Und dies obwohl in meinem Fall „der Osten“ die 1970er Jahre hindurch reales Ziel von Autopsie wurde – sei es als russischlernender Gymnasiast in Gestalt von Sprachkursen in der Führungsmacht UdSSR, sei es als Rucksacktourist in Form von Reisen per Autostopp durch die Volksrepubliken Bulgarien, Rumänien, Ungarn und Polen, auch in derjenigen eines Urlaubs im Epochenjahr 1968 im zwischen den Blöcken changierenden Jugoslawien. Als Student an der Freien Universität (West-)Berlins lockten dann der als „Hauptstadt der DDR“ firmierende exotische Ostteil der Stadt sowie die von Freunden bewohnten DDR-Bezirke Leipzig und Dresden, später dann auch, mit substantieller Hilfe des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, wiederum Bulgarien und Jugoslawien sowie neuerlich die USA. Eine persönliche Inaugenscheinnahme von Ozeanien, Afrika, Mittel- und Südamerika oder Zentral-, Süd- und Ostasien, Arktis und Antarktis, auch des Mittleren Ostens, ergab sich nicht. Mit anderen Worten: Eurozentrismus dominierte – mit gewissen transatlantischen und eurasischen Einsprengseln.
Was natürlich nicht heißt, dass es keinen Kontakt zum nicht bereisten Rest der Welt gab. In der Midwest-Idylle der Indiana University in Bloomington war mein Zimmergenosse im Graduierten-Wohnheim Eigenmann Hall aus Izmir, und unsere Flurnachbarn kamen aus Beirut, Sapporo und einem Navaho-Reservat. Mein Mitbewohner eines bald angemieteten campusnahen Sperrholz-Plastik-Hauses war aus dem Iran, und an der Universität Uppsala saß ich in einem Büro gemeinsam mit einem Doktoranden der Geographie aus Eritrea.
Eine mittelständische schwäbische Werkzeugmaschinenfabrik als Globalisierungsbeschleuniger
Aber hat mich das globalisiert? Schwer zu sagen, doch kann ich in der Retrospektive zumindest einen nachhaltigen Globalisierungsschub identifizieren, nämlich eine mehrjährige Tätigkeit in den 1970er Jahren jeweils in den Semesterferien als Russisch-Übersetzer in einer mittelständischen schwäbischen Werkzeugmaschinenfabrik. Deren Hauptprodukt waren lochkartengesteuerte Drehautomaten, die von sogenannten Stangenlade-Magazinen zentral „gefüttert“ wurden, um im Minutentakt komplizierte Metallteile im Manometer-Maßstab für die Automobil- und Rüstungsindustrie sowie zu medizinischen Zwecken auszuwerfen. Das war seinerzeit ein westdeutscher Weltmarktschlager.
Mein Arbeitsplatz befand sich im noblen Technischen Büro, einem von kaum schallisolierenden Stellwänden unterteilten und mehrere hundert Quadratmeter umfassenden Raum mit ca. 50 Menschen. Damals galten Großraumbüros als letzter Schrei. Wenn die zahlreichen Techniker die Servicetelefone für Teile der Produktpalette der Firma bedienten, schwirrten Ortsnamen wie Mexico City, Kairo, Johannesburg, Singapur, Lahore, Adelaide und Pittsburgh durch den Raum. Auch hatte diese patriarchalisch geführte Firma etliche Produktionszweigstellen in aller Welt, zu denen der Kontakt ebenfalls lautstark telefonisch gehalten wurde – das Faxgerät war zwar bereits erfunden, aber noch nicht verbreitet.
Zwiebelrostbraten und sowjetische Motorenwerke
Das Kontrastprogramm der glokalisierten Art zu dieser Internationalität war der im Großraumbüro pünktlich um neun Uhr eintreffende Frühstückswagen, der ausschließlich regionale Produkte wie Landjäger, Leberkäse und Laugenwecken enthielt. Büroweite Erregung entstand jeweils um 11:59 Uhr, da dann die gesamte Belegschaft im Startblock zur Kantine stand und gebannt auf das Vorrücken des Minutenzeigers der Wanduhr wartete. Denn die Firmenleitung hatte in klugem Kalkül einen echten Sterne-Koch als Chef der Werkskantine eingekauft, um dergestalt die Motivation der „Weißkittel“ (und natürlich auch der „Blaumänner“) hoch zu halten – mit allseits durchschlagendem Erfolg. Die Diplom-Ingenieure, die gerade eben noch eine halbe Stunde in gebrochenem Spanisch einem Berufskollegen in Buenos Aires erklärt hatten, wie er die Werkzeuge seines Drehautomaten-Veteranen zu schleifen habe, machten sich jetzt gleich den technischen Zeichnerinnen, Lageristen und Bandarbeitern wolfsmäßig über Gaisburger Marsch oder, wahlweise, Zwiebelrostbraten mit Spätzle her – vegetarische, geschweige denn vegane Alternativen waren seinerzeit mangels Nachfrage nicht im Angebot. Nach der anderthalbstündigen Mittagspause zurück im Technischen Büro stand dann das Telefonat mit dem oxfordenglisch parlierenden Betriebsleiter im indischen Bangalore oder mit einem lusophonen Schnellsprecher im brasilianischen Belo Horizonte an.
Vor allem aber ging es um die seinerzeit noch gemäß Nationalhymne „unverbrüchliche Union sowjetischer Republiken“, abgekürzt UdSSR. Denn diese war mit großem Abstand der damalige Hauptkunde der Firma, da Staats- und Parteichef Leonid Brežnev ein ressourcenverschlingendes landesweites Prestigeprojekt verfolgte: Von 1969 an wurde auf einer Fläche von 57 Quadratkilometern am Ufer des Wolgazuflusses Kama ein gigantisches LKW-, Panzer- und Motorenwerk, „Kamskij Avtomobil‘nyj Zavod“, abgekürzt KamAZ, in den tatarischen Sumpf gestampft. Binnen Rekordbauzeit nahm es bereits 1976 die Produktion auf. Parallel dazu wurde unmittelbar vor den Werkstoren eine für 350.000 Bewohner konzipierte Arbeiter-Schlafstadt namens Naberežnye Čelny hochgezogen. Diese wurde nach dem Tod des Initiators 1982 dann passenderweise in Brežnev umbenannt, aber schon 1988, zu Perestrojka-Zeiten, rückbenannt. Heute hat Naberežnye Čelny über eine halbe Million Einwohner, ein spektakuläres Delfinarium sowie ein ebenso ungewöhnliches wie originelles Monumental-Denkmal für den regimekritischen sowjetischen Liedermacher Vladimir Vysockij; KamAZ hat mittlerweile den zweimillionsten LKW produziert – über die Zahl der bis heute dort hergestellten Kampfpanzer liegen keine verlässlichen Zahlen vor; und der „FC KAMAZ Naberežnye Čelny“ spielt mäßig erfolgreich in der zweiten Fußballliga Russlands.
Aufgebrochene Kisten und verschwundene Leitz-Ordner
Um sowjetische LKWs und Panzer zu bauen, brauchte man neben hunderten in Reihen aufgestellten schwäbischen Drehautomaten und den diese beständig mit Materialnachschub versorgenden besagten Stangenlade-Magazinen für einen reibungslosen Produktionsbetrieb vor allem drei Dinge: Ersatzteile, Verschleißteile und Schnellverschleißteile. All das, die ca. eine Tonne schweren Automaten, die genannten Teile plus technischer Dokumentation in russischer Sprache sowie Spezialwerkzeug zum Aufbau der Maschinen, wurde in große, eigens gezimmerte hölzerne Transportkisten verpackt, deren Beschriftung in russischer Kyrilliza zusätzlich zu meinen Übersetzungsaufgaben meiner Überwachung unterlag. Hauptproblem dabei war der Umstand, dass die mit großen Schablonen hantierenden ortsansässigen Beschrifter den Unterschied zwischen den kyrillischen Buchstaben „Ė“ und „Z“, „š“ und „šč“, „u“ und „č“ u. a. häufig nicht erkannten – mit der Folge, dass etwa statt dem Adjektiv „Ėlektričeskoe“ Buchstabensalat vom Typ „Zlektriueskoe“ aufgesprüht wurde. Da hieß es dann: da capo!
Geholfen hat die sorgfältige Verpackung samt korrekter Beschriftung wenig, denn die firmeneigenen Ingenieure und Techniker, die zur Installation der Maschinen die 3.000 Kilometer von Stuttgart-Echterdingen via Frankfurt/M. und Moskau nach Kazan‘ und weiter nach Naberežnye Čelny flogen, berichteten regelmäßig, dass die Kisten aufgebrochen, das Werkzeug verschwunden und von der Dokumentation nur noch das Papier, nicht mehr hingegen die Aktenordner der Firma Leitz vorhanden waren. Letztere waren zuvor anderweitigen und wohl dringenderen Verwendungen im Mega-Kombinat KamAZ zugeführt worden.
Kirschwasser und filterlose Zigaretten
Meine ganz persönliche schwäbisch-sowjetische Transnationalisierungschance wurde mir von der Firmenleitung allerdings verweigert: Denn ich durfte nie gemeinsam mit den hauseigenen Experten an die Gestade der Kama reisen, auch nicht später nach Možajsk bei Moskau, wo die weltmarktbeherrschenden Drehautomaten aus dem Filstal gynäkologische Präzisionsinstrumente zum Allunionsgebrauch produzierten. Aber warum nicht? Mutmaßlich weil ich kein Angestellter, sondern nur ein Ferienarbeiter, wenngleich ein exzeptionell gut bezahlter, war, möglicherweise auch, weil mangels eines regulären Arbeitsvertrages Visa- und Versicherungsprobleme aufgetreten wären. Aber auch mein damaliges jugendliches Alter von Anfang Zwanzig hat wohl eine Rolle gespielt. Der Leiter des Technischen Büros und Chefkonstrukteur der Firma hat mich zwar mit der persönlichen Betreuung der sowjetischen Abnahme-Ingenieure nicht nur während der Dienstzeit, sondern häufig auch an Wochenenden betraut – Ballonfahrten über die Schwäbische Alb, Kino-Besuche samt Flüsterübersetzung („Krieg der Sterne“, „Hair“, „Im Geheimdienst Ihrer Majestät“ u. a.), diskrete, aber verlässliche Versorgung mit importiertem „Moskovskaya“-Wodka und heimischem Kirschwasser sowie stangenweise filterlose Zigaretten – in subversiver Absicht habe ich immer die Marke „Reval“ auf Rechnung gekauft, da ich von meiner russophonen Großtante May wusste, dass das der historische Name der mittlerweile sowjetestnischen Hauptstadt Tallinn war. Aber an manchen Wochenenden wurde mir unmissverständlich bedeutet, dass diesmal meine gut dotierten Zusatzdienste nicht erforderlich seien, da der Chauffeur des Firmenpatrons die Betreuung der Genossen aus dem Lande Lenins direkt übernähme. Am folgenden Montagmorgen wurde dann im Großraumbüro vom Drei-Farben-Haus gemunkelt – dem städtisch betriebenen Bordell im nahen Stuttgart.
Mein Verhältnis zu den verschiedenen sowjetischen Prüfingenieuren – Ingenieurinnen wurden nicht an den klassenfeindlichen Albtrauf geschickt – war sachlich, blieb aber weitgehend unpersönlich. Das Thema Politik wurde zwar beiderseits sorgfältig vermieden, aber selbst zu regionaler Herkunft, Berufsweg oder Familienstand gaben die nie allein, sondern immer in Zweier- oder Dreiergruppen anreisenden Gäste aus dem Arbeiter- und Bauern-Imperium kaum Auskunft. Unverkennbar war ihnen schleierhaft, warum ein zumindest halbwegs intelligenter junger Westdeutscher wie ich freiwillig seinen beruflichen Spezialisierungsschwerpunkt auf Slavistik und Osteuropastudien legte. Auch dass ein Ferienarbeiter als Mittler zwischen ihnen und der Konstruktionsabteilung fungierte, war ihrem hierarchischen Denken fremd. Etliche von ihnen ließen durchblicken, dass sie mich ungeachtet meiner Jugendlichkeit für einen hauptamtlichen Mitarbeiter eines westlichen Geheimdienstes, auf jeden Fall aber für ein zwielichtiges Individuum, womöglich mit zaristischen Vorfahren, hielten. Für ein Überwinden dieses Misstrauens sah ich damals keine Möglichkeit, denn jeglicher Smalltalk, bei dem ich die Sprache auf die sowjetische Lebenswirklichkeit brachte, wurde als Aushorchen interpretiert. Und feindseliges Schweigen trat anlässlich eines Umtrunks ein, bei dem ich die ausgebrachten Toasts „Auf die Völkerfreundschaft!“, „Auf den Weltfrieden!“, und „Auf unsere Frauen!“ ohne jegliche Hintergedanken mit dem vorrevolutionär-russischen Trinkspruch „Gebe Gott, dass dies nicht der letzte (Schluck) sei!“ erwiderte. Dass jeweils mindestens einer der sowjetischen Ingenieure berichtspflichtiger Zuträger des Komitees für Staatsicherheit beim Ministerrat der UdSSR (KGB) und/oder des Militärnachrichtendienstes (GRU) war, lag selbst für mich trotz meiner altersbedingten Naivität auf der Hand – was das unkommunikative Verhalten der anderen immerhin teilweise erklärte.
Die Digitalisierung kommt nach Baden-Württemberg
„Meine“ nordwürttembergische Firma hat sich zwar im globalem Wettbewerb noch eine Zeitlang gut behauptet, hat aber die Attacke der Digitalisierung nicht überlebt – gleich der Mehrzahl ihrer ebenfalls in der Region ansässigen Konkurrenten. Ungeachtet der Mechanismen von Marktwirtschaft und weltweiten Produktionsketten tat mir der 1997 erfolgte Konkurs dieses vormals innovativen Akteurs auf dem Weltmarkt in gewisser Weise leid, und dies nicht nur wegen der phänomenalen Kantine, des angenehmen, da kooperativen sowie multikulturellen und pluridialektalen Klimas im Großraumbüro (Einheimische, Donauschwaben, Ostpreußen, Siebenbürger Sachsen und Deutschböhmen, sogar eine Badenerin und ein Bayer) sowie der Möglichkeit zum kostenlosen Kopieren tausender Seiten von Standardliteratur zur Geschichte des östlichen Europa für mein Studium – von den mir persönlich bekannten sowie den zahlreichen unbekannten der 1.100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Firma, die in den Vorruhestand gezwungen wurden, arbeitslos wurden oder weiter entfernte Arbeitsplätze fanden, ganz abgesehen. Immerhin wurden 450 von ihnen von einem Konkurrenten in der nahe gelegenen Kreisstadt übernommen.
Auch wurde seit der Jahrtausendwende die im Kalten Krieg begonnene transregionale Kooperation von württembergisch-pietistischer Ethik mit wolgatatarisch-muslimischem Arbeitsethos deutlich reaktiviert: Die Daimler AG in Stuttgart hält mittlerweile eine 15-prozentige Beteiligung an der zwischenzeitig insolvenzgefährdeten KamAZ AG in der 1992 proklamierten Teilrepublik Tatarstan der Russländischen Föderation; die weltweit tätige schwäbische Firmengruppe Liebherr baut nicht nur Krane, sondern neuerdings auch Dieselmotoren für KamAZ; und die Zahnradfabrik Friedrichshafen am Bodensee liefert Getriebe nach Naberežnye Čelny. Man kennt sich eben von früher.
Von diesen aktuellen Entwicklungen abgesehen läuft mir meine schwäbische Globalisierungskatze mitunter auch ganz direkt über den Weg: Meine Kölner Historikerkollegin Esther Meier hat 2016 unter dem Titel „Breschnews Boomtown“ eine profunde Monographie zur Geschichte der Automobil-Pflanzstadt Naberežnye Čelny vorgelegt, die Bremer Osteuropahistorikerin Susanne Schattenberg hat 2017 eine packende und erstaunlich emphatische Brežnev-Biographie veröffentlicht und im September 2018 sah ich vor einem Industriebetrieb im armenischen Gümri, vormals Leninakan, neben zahlreichen ramponierten KamAZ-LKWs sowjetischer Baujahre auch einen 25-Tonnen-Kipper des KamAZ-Typs 65802 – ein seit 2016, dem 40. Jahr der Kombinatsgründung, produzierter Dreiachser mit Allradantrieb und schnittiger Front, die einem Scania oder MAN in nichts nachsteht. War also mein höchst bescheidener persönlicher Globalisierungsanteil aus den 1970er Jahren doch nicht ganz folgenlos?
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Der Beitrag erschien ursprünglich in einer Festschrift anlässlich des 60. Geburtstags von Jerzy Kochanowski: Od zgonu ojca narodów do śmierci orła Karpat. Księga na sześćdziesiąte urodziny Jerzego Kochanowskiego / Vom Tod des Vaters der Völker bis zum Ende des Adlers der Karpathen. Festschrift für Jerzy Kochanowski zum 60. Geburtstag. Red./Hrsg. v. Włodzimierz Borodziej, Maria Buko, Raphael Utz & Zofia Zakrzewska. Warszawa: Wydawnictwo Naukowe Scholar, 2020, 388-393. ISBN 978-83-66470-14-9.