Sie haben Praktiken der Konfliktintervention durch Afrikanische Regionalorganisationen (RO) untersucht. Können Sie ein Beispiel für die Beilegung eines Konflikts unter Beteiligung Regionaler Organisationen nennen, welche deren Handlungsweise veranschaulicht?
Herpolsheimer: Diese Praktiken sind nicht bei allen Regionalorganisationen gleich, aber ein verbindendes Element ist sicherlich das Bewusstsein dafür, dass ein Konflikt in einer Region auch die Stabilität anderer Regionen bedrohen kann, da Konflikte häufig über Grenzen hinweg wirken. Daraus haben sich viele Regionalorganisationen mit der Zeit nicht nur eine Praxis geschaffen, um in Konfliktdynamiken zu intervenieren, sondern auch ein Mandat. Das prominenteste Beispiel für so eine Intervention aus den vergangenen Jahren ist wahrscheinlich Gambia. Im Jahr 2016 verlor der langjährige Amtsinhaber Yahya Jammeh die Wahl und erkannte dies auch zunächst an, lehnt die Ergebnisse jedoch einige Tage nach der Wahl doch plötzlich ab. Durch ein sehr entschiedenes Eingreifen der Afrikanischen Union (AU), der Economic Community of West African States (ECOWAS) und auch der Vereinten Nationen (UN) konnte der Konflikt jedoch beigelegt werden und Jammeh wurde der Weg ins Exil angeboten. Der eigentliche Gewinner der Wahl, Adama Barrow, konnte danach das Amt des Präsidenten antreten. Auch weitere staatliche Akteure sowie auch die Zivilgesellschaft trugen dazu bei, aber man kann sicherlich sagen, dass diese Regionalorganisationen einen maßgeblichen Anteil daran hatten.
Aus europäischer Sicht ist es sicherlich ungewöhnlich, in dieser Situation das Exil für jemanden wie Yahya Jammeh zu organisieren. Es wäre schwer vorstellbar, dass die EU Alexander Lukaschenko einen ähnlichen Deal anbietet. Wie wurde diese Lösung vor Ort aufgenommen?
Herpolsheimer: Das ist nicht unumstritten, diese Lösung geht eigentlich auch nicht mit den Werten der Gründungsstatuten der meisten Regionalorganisationen überein. Aber in diesem speziellen Fall hat man sich auf die Lösung geeinigt, durch die der Konflikt am schnellsten beigelegt werden konnte. Eine häufig genannte Kritik an den Regionalorganisationen ist auch, dass regionale Staatschefs einen starken Einfluss und ihre eigenen Vorstellungen davon haben, wie Stabilität und Sicherheit in diesen Regionen aussehen soll. Dass sich diese Vorstellungen von denen westlicher Staatschefs, aber auch von denen der Zivilgesellschaft vor Ort unterscheidet, ist nicht weiter überraschend, würde ich sagen. Sowohl die Zivilgesellschaft als auch beispielsweise die Europäische Union (EU) stellen Forderungen an diese Organisationen. Das birgt großes Konfliktpotential und führt dazu, dass die Arbeit der Regionalen Organisationen nach außen nicht besonders schnell und effizient wirkt. Aber es ist auch schwer, als Außenstehender genau zu beurteilen, wie diese Konflikte innerhalb der Organisationen verhandelt werden.
Sie haben Ihr neues Buch „Spatializing Practices of Regional Organizations during Conflict Intervention“ auch geschrieben, weil Sie sagen, dass es noch viele Leerstellen in der Forschung über Afrikanische Regionalorganisationen gibt. Was fehlt aus Ihrer Sicht?
Herpolsheimer: Ich habe in meinem Buch versucht, tatsächliche Alltagspraktiken der Akteurinnen und Akteure zu beschreiben. Ich wollte wissen, was in diesen Organisationen passiert, wenn sie auf bestimmte Konflikte reagieren oder sie konkrete sicherheitspolitische Maßnahmen formulieren und anwenden wollen. Das ist bisher sehr wenig, beziehungsweise nur auf der Grundlage einiger weniger Quellen untersucht worden. Außerdem wurden die Untersuchungen häufig aus einer sehr eurozentrischen, politikwissenschaftlichen Perspektive durchgeführt, bei der sehr viel Wert auf formale Prozesse und offizielle Dokumente gelegt wird. Das lässt aber die informelle Ebene außer Acht. Bei der EU oder der UN ist das anders, da versuchen Forscherinnen und Forscher seit mindestens 10 Jahren auch die Strukturen der „informal governance“ zu verstehen. Also Prozesse, die ablaufen, ohne dass sie in irgendeinem Dokument erwähnt werden. Das kann etwa ein Diplomatendinner sein oder ein informeller Austausch mit Menschen aus der Zivilgesellschaft.
Wie kann man diese informellen Prozesse als Forscher untersuchen?
Herpolsheimer: Es ist ein schwieriges Forschungsfeld, das sich nicht leicht erschließen lässt. Der Zugang zu den dafür benötigten Quellen ist oft begrenzt, auch die teilnehmende Beobachtung ist nicht immer möglich. Das liegt natürlich auch daran, dass die Akteurinnen und Akteure diese informellen Strukturen nicht immer gerne preisgeben. Außerdem ist oft gar nicht richtig klar, welche Informationen vertraulich sind und welche nicht. Ein Grund dafür ist zum Beispiel, dass es zwischen den verschiedenen Staaten kein einheitliches Klassifizierungssystem für Dokumente gibt. Ich habe mit meiner Untersuchung versucht, einen ersten Schritt zu gehen, in dem ich mir angeguckt habe, was genau passiert, wenn zum Beispiel offiziell von „Mediation“ oder „Konfliktprävention“ die Rede ist. Diese Begriffe sind oft unscharf und umfassen eine ganze Reihe von grundlegenden Praktiken.
Mit welcher Art von Quellen haben Sie in Ihrer Forschung gearbeitet?
Herpolsheimer: Ich habe über 170 qualitative Interviews mit über 140 verschiedenen Personen in verschiedenen Ländern geführt. Außerdem habe ich teilweise Zugang zu nicht-öffentlichen Dokumenten bekommen. Damit meine ich gar nicht streng geheime Dokumente, sondern beispielsweise Berichte, die theoretisch öffentlich sein müssten, aber auf keiner Internetseite zugänglich sind. Dann habe ich versucht, bestimmte Praktiken, die auf den ersten Blick relativ banal wirken, die aber aufschlussreich sein können, zu analysieren. Dazu gehört zum Beispiel, welche Akteurinnen und Akteure zu welcher Art von Treffen eingeladen werden oder eben nicht. Oder in welchem Verhältnis ein Treffen von Staatschefs zu einem Treffen von Botschaftern steht und wie Entscheidungsprozesse geführt werden. Diese Informationen sind interessant, weil sie als Ergebnisse von sozialen Aushandlungsprozessen entstehen. Aber meine Forschung kann dennoch nur ein Anfang sein, da auch mein Zugang letztlich begrenzt war. Das Thema braucht definitiv noch mehr Aufmerksamkeit.
Die Fragen stellte Pia Siemer.