Alte Idole vom Sockel stürzen zu wollen ist kein Phänomen der Gegenwart allein. Niemand konnte (und kann) sich sicher sein, der Damnatio Memoriae, der Ausradierung aus dem historischen Gedächtnis durch die Nachwelt, zu entgehen. Davor bewahrte und bewahrt auch nicht (immer) der Versuch, die eigene Herrschaft durch dynastische Pläne oder Plebiszite zu verstetigen. Manchmal hilft der Zufall: Das Reiterstandbild Mark Aurels in Rom, im „christlichen“ Mittelalter eigentlich ein Fall für die Metallschmelze, blieb nur erhalten, weil man den Reiter für den christlichen Kaiser Konstantin hielt.
Freilich sind die Spuren, die die Ausradierten in der Geschichte hinterlassen haben, dann doch zumeist zu deutlich lesbar. Und mochten Nero, Lenin, Stalin und Saddam Hussein auch vom Sockel gestoßen werden – Vergangenheitsbewältigung ist das bei Weitem nicht. Ohnehin lässt sich die Generalabrechnung mit der Vorgängerschaft ja nur durchführen, wenn man über die entsprechende politische Macht verfügt. Die fehlt dann meistens denen, die sich an den Herrschenden allein symbolisch abarbeiten können. So erging es der Einwohnerschaft von Antiochia, die 387 aus Protest gegen eine Steuererhöhung die Statuen der kaiserlichen Familie vom Sockel warf – eine kaiserliche Strafexpedition konnte mit knapper Not verhindert werden.
Auch Statuen können wieder auferstehen
Eine besondere Rolle spielen, wenn es um das Machtgefüge geht, auch jene, die wieder auf den Sockel gehoben wurden. In der deutschen Geschichte spielt das in den Wechseln der politischen Systeme ja keine geringe Rolle. Und so ist es auch anderswo: Der Gründer der Universität Tartu (Dorpat), König Gustav Adolf II. von Schweden, bestieg nach 42 Jahren Abwesenheit unter sowjetischer Herrschaft 1992 wieder seinen Sockel vor dem Hauptgebäude der Universität. Da könnte sich auch schon die Frage stellen: Kann und darf ein Imperialist als Universitätsgründer gewürdigt werden? Was wird sein (und hier wird es ganz aktuell), wenn die WWU, die Westfälische Wilhelms-Universität Münster, ihren Wilhelm (II.) los wird?
Die ursprüngliche Nähe des Sockelsturzes zur Sphäre der Religion - hier schreibt ja ein Kirchenhistoriker - sollte nicht übersehen werden. In der Antike fielen die Götter (wenn ihre Bildnisse nicht umgewidmet wurden), und an ihre Stelle trat der eine Gott des Christentums, den man nicht einmal darstellen durfte. Die Kaiserstatuen blieben. Die Geschichte des Christentums kennt mehr als einen Bildersturm: In Byzanz traf es in der Frühzeit die Ikonen, in der Reformation die Heiligenbilder. Ernsthafte theologische Gründe wurden gefunden, das, was anderen heilig war, in konfessionellem Hass zu zertrümmern.
Die enge Verbindung von Religion und Politik
Doch ist der Umsturz der Bilder heute vor allem eine säkulare Sache, wenn auch religiöse Aspekte immer wieder eine Rolle spielen: Dafür steht die talibanische Zerstörung der Buddha-Statuen von Bamiyan, die freilich nur noch eine Erinnerung an Zeiten waren, in denen sie eine religiöse Funktion hatten. Ganz merkwürdig auf der Grenze zwischen Religion und Politik stand 1918 der Sturz der Mariensäule auf dem Altstädter Ring in Prag nach dem Zusammenbruch der Habsburgerherrschaft: Was fiel, war ein Symbol der Gegenreformation und der Fremdherrschaft. Vor wenigen Wochen ist die Säule auf private Initiative wiedererrichtet worden. Ein neuer Triumph des Katholizismus? Wohl kaum in einem fast völlig säkularisierten Land. Vielleicht ist es eher der Triumph des Tourismus. Nun steht die Säule wieder dem großen Denkmal für den Reformator Jan Hus gegenüber, das 1915 noch unter Wiener Herrschaft errichtet werden durfte – und der inzwischen in der Erinnerung völlig säkularisierte Hus ist es doch, der den Tschechen heilig ist als Vater der Nation.
Der Sturz vom Sockel ist jedenfalls ein symbolischer Akt: mehr als Vandalismus und vielmehr ein Versuch, die historische Erinnerung im Lichte eigener Kritik zu revidieren. Wieweit das gelingt, kann Folge politischer Potenz oder auch Folge der Mobilisierung der Zivilgesellschaft sein. Andrew Jackson und Edward Colston – fällig könnten noch viele andere sein. Und solche Aktionen sind ja noch nicht einmal neu: 1967 und 1968 flog das Denkmal für den Kolonialisten Hermann von Wissmann in Hamburg gleich zweimal vom Sockel – ein Werk rebellischer Student*innen. In dieser Zeit begann in der Bundesrepublik eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus und Rassismus, und dabei spielten auch protestantische Kreise eine Rolle, die im Kontext der weltweiten kirchlichen Kontakte („Ökumene“) zunehmend globale Zusammenhänge wahrnahmen.
Haben wir vergessen, wofür die Abgebildeten stehen?
Eine Frage, die kaum zu beantworten ist, ist diese: Was sehen Menschen in solchen Denkmalen eigentlich? Wird ihre Erinnerung fehlgelenkt, so dass aus Colston ein bloßer Wohltäter wird? Gehen sie achtlos daran vorbei? Erzählen kundige Menschen den Kindern, wofür ein solches Denkmal steht? Findet überhaupt noch Erinnerung statt, oder sind solche Denkmalen bloße Ausstattungsstücke ohne Resonanz? Ist also das eigentliche Problem nicht eine fehlgeleitete Erinnerung, sondern das Vergessen dessen, wofür die Denkmale und die auf ihnen Abgebildeten stehen? Auf deutsche Verhältnisse umgemünzt hieße das: Wer wusste denn noch, wer Carl Peters war? Erst als der Name des sadistischen Großkolonialisten von Straßenschildern verbannt wurde, erinnerte man sich seiner, und zwar kritisch. Damit verbanden sich Debatten, deren Gewinn nicht primär in der Bereinigung der Straßenschilder, sondern in der historischen Sensibilisierung liegt. Im Übrigen wurde Peters schon zu Lebzeiten kritisiert und gemaßregelt. Antikolonialismus gab es vor über 100 Jahren eben auch schon in Deutschland.
Vergleichbares ist aus dem Umgang mit Gefallenendenkmalen bekannt, die sich ja häufig in oder bei Kirchen befinden. Sie dienten einst einem Gefallenenkult, der aber mehr und mehr durch das Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft ersetzt wurde. Der Theologe Günter Dehn hatte 1928 in einem Vortrag gesagt, „dass der, der getötet wurde, eben auch selbst hat töten wollen“, und er hatte damit einen Sturm der nationalkonservativen Entrüstung ausgelöst, aber er hatte den Punkt getroffen, der heute wichtig ist. Soll man nun alle Gefallenendenkmale abräumen, weil sie einmal falschen Zwecken dienten, oder sollen sie als Anhaltspunkt eines kritischen Gedenkens erhalten bleiben? Die Frage wird sich vermutlich erledigt haben, wenn niemand mehr da ist, der mit diesen Denkmalen irgendetwas verbindet, aber noch gibt es eine solche Erinnerung, die durch den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge im Geist der Verständigung und Versöhnung informiert und formiert wird.
Bismarck sollte auch in Leipzig stehen
Worum es eigentlich geht, ist also die Erinnerungskultur. In den letzten Jahren ist dieser Aspekt vermehrt in das historische Denken integriert worden. Dabei ist zuerst zu berücksichtigen, dass Erinnerung zumeist nur in gesellschaftlichen oder konfessionellen Teilmilieus erfolgte und lange obrigkeitlich oder durch Verbände und Organisationen gelenkt wurde. Im deutschen Kaiserreich begingen die nationalkonservativen Protestantisten den Sedantag (2. September), die Sozialdemokraten den 1. Mai und die Katholiken das Bonifatiusfest (6. Juni).
Die Errichtung von Denkmalen war in der Neuzeit durchaus umstritten oder verfiel dem Spott, und das dürfte in früheren Zeiten genauso gewesen sein, es gab aber keine Medien wie den sozialdemokratischen „Vorwärts“ oder das Satireblatt „Simplicissimus“ dafür. Wilhelminischer Protz kam im sozialdemokratischen Milieu nicht gut an, aber dieses Milieu konnte wiederum öffentliche Plätze nicht mit Denkmalen für August Bebel ausstatten. Mit der Strittigkeit von Denkmalen musste also schon zur Zeit ihrer Aufstellung gerechnet werden: Leipzig sollte ein Bismarck-Denkmal bekommen, das aber erst einmal in einer Vorausführung – technisch hochmodern als Galvanoplastik (Wikipedia: „bronzierte Gipsfassung“) – präsentiert wurde. Es wurde dann vom Augustusplatz in den Johannapark umgesetzt. An seiner Stelle steht heute Clara Zetkin, die wegen ihres Engagements für die „Frauenfrage“ positiv gesehen wird, aber alles andere war als eine Anhängerin der Weimarer Demokratie.
Erinnerungskultur als Aufgabe der Zeitgeschichte
Das führt zu einem Befund, dem fast alle historischen Personen unterliegen, nämlich ihrer Ambivalenz. Debatten um die Protagonisten des 20. Juli 1944, um Martin Luther, Albert Schweitzer und andere zeigen das Problem. Auch aus der Kirchengeschichte ließen sich die Beispiele vermehren, nicht die der Schuldigen und Täter allein, sondern auch die derjenigen, derer man sich nur noch ambivalent erinnern kann.
Was tun? Abräumen ist eine Möglichkeit. Radikalismen („Das Denkmal muss weg“) könnten aus didaktischer Sicht aber auch ins Leere führen. Was weg ist, bietet auch keinen Anstoß mehr, es war nur einmal gut für eine Aktion. Ein Ausweg wäre der leere Sockel oder die deutende Tafel am Fuße des Denkmals, die aus zeitgenössischer Sicht die Erinnerung problematisiert. Die Strittigkeit der Erinnerung (und hier geht es nicht um die entschiedenen Kolonialisten und Rassisten, sondern um die Personen, die Ambivalenzen auslösen) braucht aber auch Foren, und an ebendiesen scheint es zu fehlen.
Für Vergangenheitsbewältigung und Aufarbeitung ist die Entmonumentalisierung einer fehlgeleiteten Erinnerung sicher ein erster Schritt. Darum ist es auch sinnvoll, dass mit Diktaturen ebenso ihre Herrschaftssymbolik untergeht. Wer aber wirklich etwas erreichen will, muss sich auf die Geschichte einlassen und strittige Erinnerung zulassen. Und so ist Erinnerungskultur auch eine Aufgabe der Zeitgeschichte.