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In diesem Blogeintrag erläutert der Religionswissenschaftler Markus Dreßler verschiedene Deutungsmöglichkeiten der Rückumwandlung der berühmten Hagia Sophia in eine Moschee und erklärt, warum die in westlichen Medien geführte Debatte aus seiner Sicht verkürzt ist.
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Am 10. Juli 2020 erklärte das Türkische Oberverwaltungsgericht einen Beschluss des Türkischen Ministerialrats von 1934, mit dem die Moschee säkularisiert und in den Status eines Museums überführt worden war, auf der Basis eines Zuständigkeitsfehlers für nichtig. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan twitterte daraufhin umgehend, dass die Moschee sofort an das Präsidium für Religionsangelegenheiten übergeben werde, welches für die Moscheen und den Moscheebetrieb zuständig ist. Das entsprechende Dekret folgte prompt und somit war die Säkularisierung der Hagia Sophia nach 86 Jahren rückgängig gemacht. Am Freitag, dem 24. Juli, soll sie zum ersten Mal wieder als Moschee zum Freitagsgebet geöffnet werden. So viel ist Fakt, jedoch gehen die Interpretationen der Bedeutung dieser Rekonversion weit auseinander. In der internationalen Presse, vor allem der Westeuropas, wird sie dabei meist als Zeichen einer fortschreitenden Islamisierung und eines zunehmend intoleranten Autoritarismus wahrgenommen und als Provokation an die christliche Welt verstanden. Diese Wahrnehmung ist nicht gänzlich falsch, blendet aber wichtige Aspekte aus - vor allem einen nach innen gerichteten Nationalismus, dessen einende Kraft Erdoğan zum Machterhalt benötigt und ferner die Bedeutung des Aktes als Demonstration der Stärke der Türkei als regionale Führungsmacht.

Nicht nur Teile der westlichen Öffentlichkeit, auch viele säkular orientierte Bürger:innen der Türkei empfinden die Islamisierungspolitik der Regierungspartei AKP als Bedrohung. Die Aushöhlung der Demokratie sowie fortgesetzte staatliche Repressionen gegen Oppositionelle unterschiedlicher Couleur spalten das Land. In Bezug auf die Rekonversion der Hagia Sophia stehen in der Türkei jedoch andere Deutungsmuster im Vordergrund. Kritische Stimmen sehen diese als Versuch der Ablenkung von einer durch die Corona-Krise nochmals verschärften ökonomischen Krise, von den stetig sinkenden Umfragewerten und von den Zerfallserscheinungen innerhalb der AKP. Der Rekonversionsakt soll rechtskonservative sowie nationalistische Milieus wieder enger an Erdoğan und seine Partei binden. Diesem Diskurs entgegengesetzt gibt es natürlich auch Stimmen, die aus einer pluralistischen Geschichtsperspektive und in Solidarität mit den religiösen Minderheiten, deren Zahlen zwar stark geschrumpft sind, aber dennoch an die frühere Vielfalt erinnern, den Museumsstatus verteidigen - oder sogar die Rückgabe des Baus an die Griechisch-Orthodoxe Kirche fordern (wie die pro-kurdische Partei HDP).

Die Hagia Sophia als Symbol der Eroberung Istanbuls

Es gibt in der Tat einiges, was dafür spricht, die Rekonversion der Hagia Sophia sowie die begleitende Debatte in der Türkei als weiteres Beispiel für die These der „Rückkehr der Religion“ zu lesen. Religiöse Metaphern spielen in der Diskussion eine wichtige Rolle. Erdoğan selbst hielt noch am Abend der historischen Entscheidung eine Ansprache, in der er ausführlich an die ursprüngliche Konversion der orthodoxen Kathedrale während der Eroberung Istanbuls durch Sultan Mehmed Fatih („der Eroberer“) erinnerte. In dieser Erzählung steht die Konversion der Hagia Sophia als Symbol der Eroberung Istanbuls und einer neuen Zeit des Wohlstands und der Toleranz, die diese eingeläutet habe. Gleichzeitig sei „die Auferstehung der Hagia Sophia auch Vorbote der Freiheit für die al-Aqsa Moschee und des Willens der Muslime, aus einer Zeit des Unfriedens auszubrechen.“

Doch bleiben wir zunächst im türkischen Kontext. Hier komplettiert die Entsäkularisierung der Hagia Sophia eine Politik der Islamisierung des öffentlichen Raumes, die von Erdoğan und seiner AKP in den letzten Jahren kontinuierlich vorangetrieben wurde. Im März 2019 wurde die im klassisch osmanischen Stil gehaltene Çamlıca Moschee auf einem prominenten Hügel des im asiatischen Teil Instanbuls liegenden Viertels Üsküdar eröffnet. Seit 2017 befindet sich zudem eine neue Moschee am Taksim Platz im Bau, einem Wahrzeichen der kemalistischen und säkularen Türkei. Zusammen mit der Hagia Sophia Moschee bilden sie ein räumliches Dreieck mit hoher symbolischer Ausdruckskraft: Es verknüpft das byzantinisch-bis-muslimische alte Istanbul (Hagia Sophia) mit dem historisch-christlich und dann säkular-modernisierten Viertel Beyoğlu (Taksim Moschee) und dem Istanbul Anatoliens östlich des Bosporus (Çamlıca Moschee). Erdoğan inszeniert sich dabei als ein neuer „Fatih“ („Eroberer“), der in den Fußstapfen von Sultan Mehmed Fatih dessen Erbe wiederbelebt und die Türkei als post-kemalistische Bannerträgerin des islamisch-osmanischen Erbes positioniert. Die imperiale Hagia Sophia in Kombination mit den neuen Prestige-Moscheen reflektieren eindrucksvoll die neo-osmanischen Ansprüche der Erdoğan-AKP-Ära, von ihren Unterstützer:innen auch als „Neue Türkei“ apostrophiert.

Erdoğan stilisiert sich zum väterlichen Anführer

Doch worum geht es bei dieser neu-osmanischen Ermächtigung des öffentlichen Raumes? Die Aufwertung der osmanischen Tradition geht einher mit der Relativierung des kemalistischen Erbes, ohne dass dieses frontal attackiert werden würde. Auf der Ebene der Symbolpolitik erscheint das Projekt der post-kemalistischen „Neuen Türkei“ als eine Restauration: Die Re-Islamisierung der Hagia Sophia fügt sich in einen Kampf um die Oberhoheit über den öffentlichen Raum ein, der in der ersten Dekade des Millenniums im Kampf gegen das Kopftuchverbot in Universitäten und anderen öffentlichen Räumen seinen Anfang nahm. Dass Erdoğan sein Andenken in die Istanbuler Metropole nicht nur in Form von säkularen Großprojekten (dritte Bosporus-Brücke, Flughafen Istanbul und jetzt der Kanal Istanbul), sondern auch über Sakralbauten einzuschreiben sucht, passt ins Bild. Dies reflektiert gleichzeitig einen paternalistischen und autoritären Politikstil, den die AKP in die Türkei nicht eingeführt, aber vielleicht perfektioniert hat. Mustafa Kemal „Atatürk“, der „Vater der Türken“ und „Oberlehrer“, ist bis heute das paradigmatische Beispiel des väterlichen Anführers, der seine Nation beschützt und belehrt. Mit der Entsäkularisierung von durch Atatürk säkularisierten Räumen stellt Erdoğan, selbst als „der Reis“ („Anführer“) verehrt, seine Politik über diejenige Atatürks. Darüber hinaus schreibt Erdoğan sich durch die Anknüpfung an den ursprünglichen Konversionsakt durch Sultan Mehmet Fatih direkt in die osmanische Geschichte ein und präsentiert sich somit als würdiger Enkel des Eroberersultans. Dabei erzählt er in seiner Rede die Geschichte der Hagia Sophia konsequent aus muslimischer Perspektive. Sie erscheint darin als das Symbol der Eroberung Istanbuls schlechthin, welche eine Zeit der Toleranz der Religionen in der Stadt eingeleitet habe. Die kemalistische Phase wird aus dieser Perspektive zu einem historischen Zwischenspiel in einer weit bedeutenderen longue durée türkisch-islamischer Grandeur reduziert, in der, das wird von Erdoğan durchweg betont, auch die Toleranz gegenüber den Nicht-Muslimen eine große Rolle spielte. 

Zwar steckt viel religiöser Pathos in der neo-osmanischen Inszenierung der Rekonversion der Hagia Sophia als Anknüpfung an die Ur-Konversion durch Mehmet den Eroberer, jedoch sollte dies nicht dazu führen, die Dominanz nationalistischer Semantiken im Diskurs zur Rekonversion in der Türkei zu übersehen. Und diese nationalistische Semantik generiert andere Fronten als die Debatte um Islamisierung und Säkularität. So macht sie auch Anleihen beim kemalistischen Diskurs. Antiimperialistisch-nationalistische Deutungsmuster vereinen rechts- bis linksnationalistische Diskurse. Die Rekonversion der Hagia Sophia in eine Moschee wird in diesem Diskursfeld primär als performatives Zeichen türkischer Souveränität im Angesicht kontinuierlicher westlicher Einmischungsversuche in innertürkische Angelegenheiten betrachtet. Die Konversion der Hagia Sophia zu einem Museum war aus dieser Perspektive Produkt eines quasi-kolonialen Diktats und ein Stachel in der von Atatürk ermöglichten, aber an diesem Punkt symbolisch zurückgenommenen, Unabhängigkeit des Landes. Diese Rhetorik wurde auch von Erdoğan in seiner besagten Ansprache an die Nation aufgegriffen: „Ich lade alle dazu ein, den Beschluss zur Hagia Sophia, der von den rechtlichen und exekutiven Organen unseres Landes getroffen wurde, zu respektieren. […] Die Wiedereröffnung der Hagia Sophia für den Gottesdienst qua einer neuen Verordnung ergibt sich aus den Souveränitätsrechten unseres Landes.“ 

Türkischer Führungsanspruch in der Region

Das Deutungsmotiv der Wiederherstellung beziehungsweise Vervollkommnung der Souveränität der türkischen Nation, die nicht nur in der rechtsnationalistischen Rhetorik als eine Nation der Muslime erscheint und nicht-muslimische türkische Staatsbürger:innen ausschließt, ist sowohl an ein nationales als auch ein internationales Publikum gerichtet. Dahinter steht einerseits das Bemühen des türkischen Staatspräsidenten, in Zeiten einer durch die Corona-Krise nochmals verschärften ökonomischen Krise und stetig sinkender Umfragewerte rechtskonservative sowie nationalistische Milieus enger an sich zu binden. Andererseits wird der Rekonversionsakt auch als ein nachdrückliches Zeichen des türkischen Führungsanspruchs über die post-osmanisch muslimischen Nationen des Nahen Ostens interpretiert. Das militärische Engagement der Türkei in Syrien und Libyen untermauert diesen Anspruch. Die schon angeführte Ankündigung der Befreiung der al-Aqsa Moschee auf dem Tempelberg zu Jerusalem zeigt in die gleiche Richtung.

Dazu hat Erdoğan in seiner Rede zur Legitimation der Konversion der Hagia Sophia mit dem Diskurs der Bewahrung kulturellen Erbes noch einen Kontext angesprochen, der manche überrascht haben mag. In einem beklagenswert schlechten Zustand bei der Eroberung hätten sich die Osmanen der Hagia Sophia als erster und wichtigster Istanbuler Moschee angenommen, ihre historischen Schätze und selbst ihren Namen (im Türkischen: Ayasofya) sorgsam bewahrt, den Bau renoviert und gemäß seiner neuen Funktion verändert und ausgebaut. Deshalb, so Erdoğan weiter, „ist das Recht der Türkischen Nation über die Hagia Sophia nicht geringer als das derjenigen, die dieses Bauwerk vor ungefähr 1500 Jahren zuerst erbaut haben.“ Mit der Umwandlung in ein Museum während der kemalistischen Einparteienherrschaft sei die Hagia Sophia abermals „einer historischen Zerstörung ausgesetzt worden. Angebaut an die Moschee, wurde die Ayasofya Medrese, die von Sultan Fatih als erste osmanische Universität erbaut worden ist, grundlos zerstört … Die wertvollen Teppiche, die auf dem Boden der Ayasofya ausgelegt waren, wurden zerschnitten und hier und da verteilt. Die antiken Kronleuchter wurden in die Schmelzerei gebracht.“ Und es hätte sogar Pläne gegeben, die Minarette zu zerstören.

Provokation des Westens scheint keine Priorität zu sein

Erdoğan delegitimiert damit die kemalistische Konversion der Hagia Sophia in ein Museum als Akt der Zerstörung von Kulturgut. Er bedient sich hier einer dominanten neo-osmanischen und nationalistischen Rhetorik, die auch den rechtskonservativen Diskurs in der Türkei zum Status der Hagia Sophia in den letzten Jahren geprägt hat. Zusätzlich greift er internationale cultural heritage-Diskurse auf, um die Rekonversion zu legitimieren. Das mag als Zeichen gewertet werden, dass ihm trotz aller Souveränitätsrhetorik die kritische westliche Öffentlichkeit nicht egal ist. Die cultural heritage-Rhetorik, die Betonung religiöser Toleranz als Teil der osmanisch-islamischen Tradition und das Versprechen, die Hagia Sophia, UNESCO-Weltkulturerbe, auch weiterhin für alle Besucher:innen geöffnet zu halten, unterstützen die These, dass die Provokation westlicher Öffentlichkeit wohl in der aktuellen Situation nicht als oberstes Motiv ausgemacht werden sollte. Es geht Erdoğan im Moment vor allem darum, sein politisches Kapital anderswo zu stärken: innerhalb der Türkei als Verfechter nationaler Souveränität und in der post-osmanischen muslimischen Welt als Hoffnungsträger der islamischen Bewegung.