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Die Soziologin Prof. Dr. Helena Flam hat für ihr Buch „Juristische Expertise zwischen Profession und Protest“ untersucht, wie es um die Distanz der Justiz in Deutschland zu ihren konservativen Wurzeln und Vorgängern steht. Im Interview erklärt sie, wie das deutsche Justizsystem anhand des Prozesses zur NSU-Mordserie mit Rassismus und Antisemitismus umgeht.

Wie sind Sie als Soziologin zu diesem Thema gekommen?

Ich habe früher zu Diskriminierung und insbesondere Rassismus geforscht – Begriffe, die bis vor kurzem in Deutschland noch weitgehend tabuisiert wurden.

Nach der Enthüllung der NSU-Morde und den Vorbereitungen auf den Gerichtsprozess interessierte mich eigentlich, ob das Gericht als Institution diskriminierend gegen die Opfer, die alle einen migrantischen Hintergrund hatten, agieren würde. In Deutschland gibt es zu diesem Thema erhebliche Forschungslücken. Es fehlen auch seit 35 Jahren Untersuchungen zu Gerichtsprozessen.

Die Idee war, diese Lücken mit der Erforschung des besonders großen und aufmerksam verfolgten NSU-Prozesses zu schließen. Er wurde zwar trotz Anträgen der Nebenklage nicht protokolliert, aber von einer Nichtregierungsorganisation namens NSU-Watch kontinuierlich verschriftlicht. Eine Voraussetzung für das Gelingen unseres Forschungsprojektes war, dass wir uns im Vorfeld fundierte Grundkenntnisse über die deutschen Jurist:innen sowie die Justiz mithilfe von Literatur, Lektüre von Fachzeitschriften sowie durch zahlreiche qualitative Interviews mit Jurist:innen in ganz Deutschland aneignen. So haben wir im ersten Forschungsjahr etwa 70 Interviews geführt und protokolliert.

Die Frage, die sich stellte, war, wie die deutsche Justiz, die noch immer als mehrheitlich konservativ gilt und lange Zeit durch die NS-Zeit geprägt war, mit den mutmaßlichen Neonazis, die auf der Anklagebank saßen oder als Zeug:innen auftraten, einerseits, und mit der Nebenklage – die Hinterbliebenen der Opfer, die einen migrantischen Hintergrund haben – andererseits, umgehen würde. Die Ausgangshypothese war, dass wir eine positive Diskriminierung der Angeklagten und eine negative Diskriminierung der Opfer erwarten könnten und dass Deutschland weniger weltoffen sei, als es die Regierung behauptet.

Besonders relevant erschien die Frage, ob es den 15-20 Anwält:innen der Opfer mit großem Engagement und zahlreichen Interventionen – das heißt Fragen, Beweisführungen und Zusammenhangsvorstellungen – gelingen würde, die Angeklagten Schritt für Schritt als Neonazis zu entlarven. Die Frage war auch, welche historischen Entwicklungen es möglich gemacht haben,  dass es Jurist:innen in Deutschland und besonders bei diesem Gerichtsprozess gab, die explizit und offen argumentativ gegen die Neonazis auftreten?

 

Wie haben Sie die Arbeit der Jurist:innen, auch die der besonders engagierten, untersucht?

Es sind selten die einzelnen Jurist:innen, sondern stattdessen ihre berufsbezogenen und auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhenden Vereinigungen, die ich näher in diesem ersten Band beleuchtet habe. Ihre Entstehungsgeschichte, ihre Anliegen und ihre internen Debatten - nicht zuletzt auch zu Genderfragen und Rassismus sowie ihr Einfluss auf die Gesetzgebung und die Öffentlichkeit habe ich, so gut es geht, untersucht.

 

Können Sie einige Befunde kurz vorstellen?

Die Untersuchung zeigt zum einen – wenn auch nur fragmentiert - wie manche Weimarer (republikanische) Ideale und sozialistische Ideale und Ideen das nationalsozialistische Regime überlebt haben und mithilfe bestimmter juristischer Vereinigungen in der Bundesrepublik weiterentwickelt wurden – ungeachtet der Schlussstrichpolitik von Bundeskanzler Konrad Adenauer und der Repression der 1970er Jahre.

Die Untersuchung ermöglicht es auch zu zeigen, dass in diesem lange von Männern dominierten Fachgebiet Juristinnen, obwohl sie in dieser Berufsgruppe bis in unser Jahrhundert hinein eine winzige Minderheit ausmachten, eine sehr wichtige Rolle spielen. Sie trugen und tragen enorm zur Modernisierung der deutschen Gesetzgebung bei in Bezug auf das Arbeits-, Familien- und Fürsorgerecht sowie zu Fragen zur Gewalt gegen Frauen, Jugendliche und Kinder.

Auf diese Befunde gestützt, schlage ich in dem Buch vor, dass die Professionssoziologie die Professionen nicht nur als besondere Berufsgruppen auf- und erfasst, sondern die Möglichkeit in Betracht zieht, dass sich eine genügende Zahl von Professionsmitgliedern zusammentun und extracurricular engagieren, um bestimmte professionsbedingte Ideen zu verbreiten und nach sozialem Wandel und Reformen unterschiedlicher Art zu streben. Dabei geraten sie durchaus mit anderen – seien es Berufskolleg:innen oder Staats- und Wirtschaftsvertreter:innen – auf Kollisionskurs. Manche verlassen sich vor allem auf ihre Expertise, wenn sie nach Reformen streben. Andere aber organisieren auch öffentliche Debatten, Bürgerinitiativen oder Demonstrationen. Letztere erinnern dann sehr an soziale Bewegungen. Beide Strömungen können mit sozialen Bewegungen verzahnt werden oder zusammenarbeiten. Dies, auch wenn es dem etablierten Bild der Professionen nicht entspricht, sollte stärker zur Kenntnis genommen werden.

Ein weiterer Vorschlag ist, dass die Forschung zu sozialen Bewegungen erweitert wird und sich nicht nur auf soziale Bewegungen „von unten“ konzentriert. Das Buch zeigt, dass auch relativ gut entlohnte Berufsgruppen, die den Kerninstitutionen der Gesellschaft dienen und zur Loyalität aufgefordert sind, unter bestimmten Bedingungen gesellschafts-, staats- oder justizkritisch agieren. Für mich persönlich überraschend war, dass dies bereits in den 1960ern nicht nur für Anwälte, sondern auch für (damals fast ausschließlich männliche) Richter und Staatsanwälte galt.

 

Welche der „gut entlohnten Berufsgruppen“ innerhalb der Justiz bringen sich besonders ein?

Was die heutige Institution Justiz betrifft, sind vor allem die 'neuen Richter:innen und Staatsanwält:innen' von größter Bedeutung.  Dieses Label bezeichnet eine Gruppe, die den Anspruch hat, demokratisch zu agieren sowie die Justiz und andere Institutionen der Gesellschaft demokratisch zu gestalten. Diese Richter:innen und Staatsanwält:innen fordern unter anderem, dass die Justiz durchgehend unabhängig von der Exekutive und der Legislative in Deutschland etabliert wird - auf Bundesebene und in vielen Bundesländern ist dies oft nicht der Fall. Die Justiz soll ausreichend ausgestattet werden (mit Status, Ressourcen und Machtbefugnissen), um als dritte Gewalt fungieren zu können: So lange Justizminister:innen zusammen mit anderen Minister:innen beraten und die Gerichte nicht unabhängig von Justizministerien agieren dürfen, wird dies nicht der Fall sein. Justiz und Politik sollen konsequent getrennt werden.

Ich vermute, dass wir dieser Gruppe eine Reihe der jüngsten Reformen und Initiativen zu verdanken haben – etwa, dass das Wort „Rasse“ aus dem Grundgesetz entfernt wird oder dass die antisemitisch motivierten Angriffe und Morde als solche erfasst und von den Gerichten entsprechend bestraft werden sollten. Ich würde sagen, dass diese Gruppe das Thema Antisemitismus in die Fortbildungen von Staatsanwält:innen eingebracht hat und auch die neue Fokussierung auf Hate-Speech im Internet betrieben hat. Dank dieser Gruppe werden wir hoffentlich eine Verbesserung von staatsanwältlichen und polizeilichen Ermittlungen sehen, ebenso wie mehr Gerechtigkeit bei der Bestrafung der Täter:innen.

Diese Initiativen tragen dazu bei, dass Deutschland dem Anspruch, „demokratisch und weltoffen“, auch „bei sich zu Hause“, zu sein, einen Schritt näherkommt.

Man muss diese und ähnliche Initiativen begrüßen, auch wenn man sie mit 'zu wenig, zu spät' etikettieren mag und sich fragt, warum es juristische Fakultäten zulassen, dass ihre Absolvent:innen ohne ganz aktuelles Wissen über Sexismus, Rassismus, Antisemitismus und Ausländerhass ihr Studium beenden.

Andererseits kann man monieren, dass die gesellschaftskritischen Jurist:innen sich in ihren, in dem Buch näher beleuchteten, Zeitschriften und Vereinigungen – zugespitzt gesagt - sehr gern mit der NS-Vergangenheit der Justiz, aber weniger mit den gegenwärtigen Erscheinungen von Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit beschäftigen. Eine klare Ausnahme stellt der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) dar.

Weiterhin – und erneut zugespitzt – haben die von den männlichen Juristen lange dominierten Zeitschriften, wenn überhaupt, dann nur die verstorbenen oder gerade ausgezeichneten Kolleginnen in ihren Beiträgen geehrt, aber Frauen erst ab den späten 1980er Jahren und Mitte der 1990er Jahre in ihre Redaktionen aufgenommen. Aber selbst dies hatte kaum Einfluss auf die behandelten Themen: So werden etwa Frauen-Fragen so gut wie nie erörtert. Letztlich haben auch die beiden Jura-Frauenvereine kaum ostdeutsche, „migrantische“ und Women-of-Color-Mitglieder. Themen wie Antisemitismus oder (auch anti-muslimischer) Rassismus spielen keine große Rolle.

 

Welche Konsequenzen lassen sich beobachten?

Daraus ergibt sich erstens, dass Jurist:innen in der Öffentlichkeit zu gesellschaftskritischen Themen kaum zu hören sind. Staatsanwält:innen und Richter:innen sollten sich fortbilden, so wie es ihre Kolleg:innen in Bayern und Leipzig schon 2019 getan haben, um sich für Themenfelder wie Rassismus oder Antisemitismus zu sensibilisieren und rassistische oder antisemitische Straftaten besser erkennen zu können.

Und zweitens heißt dies, dass manch gut gemeinte Reform mindestens teilweise an den Ursachen vorbeigeht. Neue Regeln zum Umgang der Betreiber:innen und der Justiz mit digitalen Hass-Foren und -Texten bekämpfen eher Symptome. Stattdessen sollten die organisierten, seit langem bekannten Neonazis und ihre Netzwerke wirksam bekämpft werden. Hate-Speech im Netz wird dann automatisch nachlassen.

 

Wie reagierten die Presse und die Öffentlichkeit auf den NSU-Prozess?

Beim NSU-Prozess war zu beobachten, dass die nationale Presse ziemlich schnell das Interesse verlor. Eine von uns durchgeführte Untersuchung legt nahe, dass dies großenteils mit den häufigen Themawechseln und dem fragmentarischen Charakter der Kommunikation vor Gericht zu tun hatte. Statt Sensationen oder spannende Geschichten zu hören, wurden die Zuhörer:innen mit (scheinbar) langweiligen Details konfrontiert. Diese zwei Faktoren haben es dem Publikum und den Journalist:innen, sogar den teilnehmenden Jurist:innen, erschwert die Statements und Dialoge mitzuverfolgen. Aber das waren nicht die einzigen Gründe. Es ist ja bekannt, dass die Zahl der Pressevertreter:innen zu Beginn des Prozesses begrenzt wurde und per Los bestimmt worden war. Das im Gericht anwesende kleine Publikum wurde beim Eintritt wie am Flughafen kontrolliert. Vorab mussten sämtliche Sachen in Schließfächern hinterlegt werden. Normale Besucher durften das Gehörte lediglich handschriftlich festhalten, nur Journalist:innen durften ihre Laptops mitnehmen. Es gab also sichtbare Bemühungen, den öffentlichen Zugang zum Prozessgeschehen einzuschränken. Nur in den ersten Tagen gab es in der Nationalpresse viel Lärm um den Prozess. Über das Ende wurde in den Zeitungen nationaler Reichweite hingegen kaum berichtet. Ausserdem standen so gut wie ausschließlich die Täter:innen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Nicht einmal die Nichtregierungsorganisation NSU-Watch, die die Kommunikation vor Gericht protokolliert hat, berichtete während der ersten Prozessjahre viel über die Betroffenen und die von ihnen organisierten Demonstrationen oder anderen Initiativen. Das kam erst später.

Im Unterschied zum NSU-Prozess kann man den Prozess gegen den ehemaligen, inzwischen 93-jährigen KZ-Aufseher Bruno D. als Medienevent bezeichnen. Er wurde 2020 wegen Beihilfe zum Mord in 5232 Fällen zu einer zweijährigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. Dieser Prozess bekam viel massenmediale Aufmerksamkeit, kurze Interviews mit den Überlebenden und ihren Kindern wurden ausgestrahlt und das Ende des Prozesses wurde im und vor dem Gerichtssaal bejubelt. Die Richter standen stolz im Licht der Kameras. Bejubelt wurde deutschlandweit, dass im heutigen Deutschland die Bestrafung von Personen, die Konzentrationslager mitgetragen haben, außer Frage steht. Gern vergessen wird, dass auch hier wie beim Auschwitz-Prozess ein Befehlsnehmer bestraft wurde, während viele Befehlsgeber auf freiem Fuß blieben.

 

Wie wird mit äußerer und innerer Kritik am deutschen Justizsystem umgegangen?

In der BRD diskutierten Juristen (es gab sehr wenige Juristinnen zu dieser Zeit) nach dem Zweiten Weltkrieg, ob es eine Fachöffentlichkeit geben sollte und damit eine Möglichkeit, Kollegen zu kritisieren. Eine Kritik von außen – durch die Presse – galt seinerzeit als anstößig und skandalös. Sie wurde mit der Begründung abgelehnt, dass solche Kritik die Entscheidungen der Justiz beeinflussen könne und dadurch das Prinzip der unabhängigen Justiz gefährde. Es ist wichtig zu wissen, dass zu dieser Zeit die Justiz weitgehend von ehemaligen Nationalsozialisten gesteuert wurde. Noch 1957 bestand die Leitung der Justiz zu 76 Prozent aus ehemaligen NSDAP-Mitgliedern und zu 22 Prozent aus ehemaligen SA-Mitgliedern. Die Argumentation für Abschottung nach außen ignorierte, dass die Politik oft Entscheidungen der Justiz bestimmte und diese Tendenz keineswegs mit dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft geendet hatte. Erst nach vielen von der Presse enthüllten Skandalen – zum Beispiel die Spiegel-Affäre, bei der die zuständigen Staatsanwälte nicht zögerten, die von der Politik angeordneten Verhaftungen und Durchsuchungen durchführen zu lassen – kam es langsam zur Öffnung der Justiz im Sinne einer neuen Bereitschaft, der Öffentlichkeit und den Medien, die auf Rechtsstaatlichkeit bestanden, Aufmerksamkeit zu schenken. Weiterhin haben sich vor allem die „Neuen Richter“, die den Anspruch hatten, demokratischer als ihre Vorgänger zu agieren, bemüht, auch im Gerichtssaal weniger autoritär zu agieren – also Sachverhalte zu erklären und zu kommunizieren statt Urteile nur zu verkünden und ständige Rückfälle in die Fachsprache den Anwesenden zuzumuten. Das sollte – genauso wie das Lernen über die Gesellschaft mit Hilfe von Lehrveranstaltungen in der Soziologie oder der Politologie – das Verhältnis zwischen den Bürger:innen, der Gesellschaft und der Justiz verbessern und die vollständige Abschottung der Justiz von der Gesellschaft, die in den 1960ern kraftvoll kritisiert wurde, beenden. Aber es galt immer noch, dass der Richter ohne jeglichen Einfluss von außen seine Entscheidungen treffen sollte. Weder der Staat, noch die Gesellschaft oder die Presse sollten Einfluss auf richterliche Entscheidungen nehmen können. Den Anspruch, den Gerichtsprozess demokratischer zu gestalten, gibt es bei den „Neuen Richter:innen und Staatsanwält:innen“ gegenwärtig immer noch, genauso wie das Bewusstsein, dass noch viel dafür getan werden muss.

Eine demokratische Gesellschaft erfordert eine gut informierte, gesellschafts-, staats- und sogar justizkritische Justiz, fanden die Weimarer Republikaner und Sozialisten sowie Kritische Jurist:innen der Nachkriegszeit. Diesen Maßstab zu erreichen, steht in der Bundesrepublik noch bevor.

 

Die Fragen stellten Pia Siemer und Veronika Warzycha.

 

Professorin Helena Flam, PhD, hat ihren Fil.Kand. in Lund, Schweden und ihren Doktortitel an der Columbia University in New York City erworben. Sie lehrte zwischen 1993 und 2017 am Leipziger Institut für Soziologie. Ihr neuestes Buch trägt den Titel „Juristische Expertise zwischen Profession und Protest: Von der Weimarer in die Bonner und Berliner Republik“. Für 2021 sind die abschließenden Recherchen geplant, um einen Band zur Analyse des NSU Prozesses fertigzustellen. Beide Bücher sind entstanden im Zusammenhang mit dem von der Volkswagenstiftung zwischen 2015 und 2018 finanzierten Forschungsprojekt „German Legal Traditions on Trial”, das am Centre for Area Studies (CAS) der Universität Leipzig angesiedelt war.