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In Blogbeitrag #9 geht Professor Gert Pickel der Frage nach, was die kriseninduzierte Zustimmung für die Bundesregierung während der Corona-Pandemie für den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedeutet.
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Am ReCentGlobe arbeiten mehr als 200 Mitarbeiter*innen zusammen und untersuchen, ausgehend von einem handlungs- und akteurszentrierten Ansatz, Globalisierungsprojekte der Gegenwart und Vergangenheit. An dieser Stelle kommen jede Woche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Zentrums zu Wort, geben Einblicke in ihre Forschung und treten miteinander in eine Debatte.

Vor nicht allzu langer Zeit wirkte es so, als würde nach der Ankündigung Angela Merkels, ihre Amtszeit zu beenden, ein quälender Abschied auf Raten das Zukunftsszenario sein. Der allgemeine Eindruck über fast alle Medien hinweg, war der einer eher ergebnislosen Restamtszeit. Als „Lame Duck“ bezeichnet man Amtsinhaber*innen in einer solchen Phase etwas uncharmant. Schon wurde die Endphase der Kanzlerschaft Angela Merkels mit dem zähen und wenig glanzvollen Ausklang der Ära Kohl verglichen. Dieses Bild, einer eher im Stillstand verfangenen Regierung, passte gerade Rechtspopulist*innen gut ins Kalkül. Diese hatten gerade über eine lautstarke „Merkel-muss-weg“-Propaganda ein personalisiertes Feindbild der „überkommenen und korrupten“ politischen Elite aufgebaut. Für sie muss die Corona-Krise wie eine Schockwelle wirken. Denn aktuell verschiebt sich der zentrale öffentliche Diskurs weg von erneuerten Debatten über Fluchtbewegungen aus Syrien, hin zu einem Thema, in dem Regierung und Bundeskanzlerin Handlungsfähigkeit und Tatkraft demonstrieren können. So widerspricht auch die aktuell enorme Popularität der Bundeskanzlerin allen personenzentrierten Kampagnen aus dem rechtspopulistischen Lager. 88% meinen nach neusten Meinungsumfragen, die Regierung mache einen guten Job in der Corona-Krise und die Zufriedenheitswerte mit der Bundesregierung erhielten fast astronomische Zuwachswerte von bis zu 30 Prozentpunkten (https://www.prosieben.de/tv/newstime/politik/grosse-mehrheit-zufrieden-mit-corona-krisenmanagement-der-regierung-108492). In den internationalen Medien wurde Angela Merkel als kontrastierendes Positivbeispiel den eher kriegerisch argumentierenden, aber auch hektisch agierenden Präsidenten der USA und Frankreichs gegenübergestellt.

Was bedeutet diese kriseninduzierte Zustimmung nun aber für den gesellschaftlichen Zusammenhalt? Eine Beziehung liegt auf der Hand, werden doch Appelle an den gesellschaftlichen Zusammenhalt und Solidarität in der heutigen Krisenzeit wiederholt geäußert. „Wir stehen das zusammen durch“, so lautet die wohl am häufigsten verwendete Floskel, die man derzeit in den Medien hört. Doch vielleicht ist diese Aufforderung auch keine Floskel, sondern der Appell an ein Gemeinschaftsgefühl, das in einer als hochindividualisiert geltenden Gesellschaft kaum mehr für existent gehalten wurde. Die Regierung hofft bei dieser Äußerung nicht nur auf eine symbolische Wirkung, die die üblichen politischen und innergesellschaftlichen Konflikte und Kontroversen in Schach hält, um „in der Corona-Krise an einem gemeinsamen Strang zu ziehen“. Sondern es wird auch an eine gemeinsame Basis der deutschen Demokratie appelliert – politische Gemeinschaft. Und wie die Umfragen zur Akzeptanz der Entscheidungen wie auch das weitgehende Einhalten der beschlossenen Maßnahmen zeigen, scheint diese Ansprache nicht völlig umsonst zu sein und in der Bevölkerung einen Nerv zu treffen.

Neben den Einschränkungen sind es vor allem Bilder von Zusammenhalt und Hilfsbereitschaft, welche die öffentliche Berichterstattung der Covid-19-Krise prägen. Schaut man näher hin, ist der gewünschte Zusammenhalt allerdings zumindest räumlich begrenzt. So scheint sich der Kreis der Solidarität weitgehend auf die Mitglieder der eigenen politischen, nationalen Gemeinschaft zu beschränken. Natürlich soll auch anderen, gerade den besonders Bedürftigen in Europa geholfen werden. Allerdings nur, wenn bei uns Krankenhausbetten frei bleiben und dies unser Gesundheitssystem, unsere Wirtschaft und unsere Hilfsbereitschaft nicht überlastet. Manche Autoren sprechen hier von Radien der Solidarität (Delhey/Newton/Welzel 2011; Gerhards/Lengfeld 2013), in denen man zwar allgemein solidarisch ist, nur gibt es eben Abstufungen, die sich mit zunehmender Krisenhaftigkeit auf Personengruppen beziehen, die einem nahe stehen. Das wird an einigen Maßnahmen sehr deutlich: Kaum jemand findet die Schließung der Grenzen zu anderen Ländern wirklich problematisch oder stößt sich am Wunsch nach zügiger Ausreise von Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Und dies ist keine deutsche Besonderheit, sondern gilt für viele europäische Länder. Europäische Lösungen treten bei Regierung und Bürger*innen in den Hintergrund, wenn man sich denn überhaupt auf welche einigen kann. Zwar müht man sich um Bruchstücke von Solidarität nach außen, zum Beispiel, indem man einige schwer kranke italienische Staatsbürger*innen in die eigenen Kliniken übernimmt, diese Solidarität ist aber gegenüber der Solidarität mit Angehörigen der eigenen Gemeinschaft deutlich zurückgestellt. Und selbst innerhalb der Bundesrepublik manifestieren sich Grenzen, wenn man den quasi einmaligen Vorgang betrachtet, dass das Reisen zwischen Bundesländern erschwert bis gar verboten wird.

Diese dann doch rigide Abstufung von Solidarität und Zugehörigkeit entspricht in vielen Punkten den Erkenntnissen der Gerechtigkeits-, Solidaritäts- und Vertrauensforschung (Wegener/Liebig 1998). In ihrem Herzen sind die meisten Menschen grundsätzlich tolerant und solidarisch. Das Ausmaß hängt aber vom Umfang der Hilfe und der Nähe zu bestimmten Gruppen ab (Pickel 2012). So fühlen sich viele den Mitgliedern der eigenen Nation mehr verpflichtet, als den Miteuropäer*innen – von anderen wollen wir lieber gar nicht sprechen. Allein die Argumentation, dass man in Afrika helfen müsse, weil sich dies sonst für einen selbst als ungünstig erweise, belegt die scheinbare Notwendigkeit einer eher nutzenorientierten Argumentation, um eine Solidarität zu unterlegen, die über Grenzen hinausreicht. Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist in dieser Vorstellung vor allem einer, der sich auf die Mitglieder der eigenen nationalen Gemeinschaft konzentriert. Sie kommt dann zum Tragen, wenn eine Art Bedürfnissolidarität gefragt ist. Anders gesagt, es muss den Empfänger*innen der Solidarität schon sehr schlecht gehen, damit die Grenze der eigenen Gemeinschaft überschritten wird. Nach innen speist sich die die Solidarität dagegen aus unterschiedlichen Quellen: eine auf Leistung bezogene Solidarität, die argumentativ aus eigenem Einsatz und über die schlichte Einzahlung in das Gesundheitssystem erworben wurde, eine aus Gleichheitsgründen notwendige Solidarität der Staatsbürger*innen und eine kollektiv geprägte Solidarität der Gemeinschaftsmitglieder der wichtigsten Solidargemeinschaft – der Nation. Dieser Radius der Solidarität ist nicht ganz überraschend, denn das Gefühl einer kollektiven Bedrohung bringt eine verstärkte Bindung an das eigene Kollektiv hervor. Dies scheint, selbst in modernen, globalisierten Zeiten, immer noch weitgehend die Nation zu sein. Und dies wird verständlich, wenn man bedenkt, wo  aktuell die zentralen Entscheidungen in der Bedrohungssituation getroffen werden. Unter Bedrohung rückt man zusammen – und schottet sich auch lieber ein wenig gegenüber anderen ab.

Eine zweite Beobachtung ist, dass autoritäre Elemente Raum greifen. Speziell unter Bedingungen, die bei den Bürger*innen Angst erzeugen. Eine bekannte Einschätzung besagt, dass Gruppen sich speziell in Krisenzeiten um ihre Führer*in scharen würden. Dies wird von der Hoffnung getrieben, dass diese gemeinsame Unterordnung unter eine konsequente Leitung Erfolg im Kampf gegen die gemeinsame Bedrohung verspricht. Dies galt in Kriegszeiten und dies gilt nun auch in Zeiten der Bedrohung durch ein Virus wie Covid-19. Deutet man dies kritisch, so kommt es – ganz im Sinne der frühen Arbeiten Adornos (1973) – zu einer Art autoritären Unterwerfung unter eine alleswissende Führung zugunsten des Gemeinwohls. Diese Deutung klingt nun nur begrenzt positiv, sind doch in diesem Theoriestrang autoritäre Unterwerfung und ggf. autoritäre Aggression miteinander verbunden. Zudem liegt die Verbindung zwischen Autoritarismus und Rechtsextremismus sowie Nationalismus nahe (Decker/Brähler 2018). Und die zunehmende Verbreitung von Verschwörungstheorien über die Ausbreitung von Covid-19 passt gut zum verschwörungstheoretischen „Stilelement“ des Autoritarismus.

Doch man kann diesen sich unterordnenden Zusammenhalt auch anders interpretieren. So lässt sich die Abtretung individueller Rechte in dieser Krisenzeit auch weniger radikal mithilfe der politischen Kulturforschung interpretieren (Pickel/Pickel 2006, 2020). In der von ihr als maßgeblich für moderne Demokratien propagierten Civic Culture stehen Elemente der Unterordnung bzw. des Gehorsams der Bürger*innen immer konstitutiv neben Elementen der partizipativen Gestaltung (Almond/Verba 1963). Ab und zu müssen die Bürger*innen auch gehorchen, soll die Gesellschaft funktionieren und überleben. Gerade dieser Teil der Civic Culture steht oft nicht im Blick, wenn wir auf die demokratische Gesellschaft blicken. Dieser Gehorsam soll aber durchaus nicht unkritisch oder apathisch sein. Denn parallel zum Gehorsam ist es die Pflicht der Bürger*innen, ihre politische Gemeinschaft und Gesellschaft auch selbst in Krisenzeiten – oder gerade da – mitzugestalten. Krisenbewältigung funktioniert weder ohne das Einhalten von sinnvollen Regeln, die eine Regierung setzt, noch ohne eigene Mitwirkung. Dieses Zusammenspiel macht, so die theoretische Annahme, die politische Kultur einer Civic Culture aus, wie sie liberale Demokratien kennzeichnen soll.

Entscheidend für dieses Funktionieren ist die Legitimität der „Führung“. Man muss vertrauen, dass sie sinnvolle Regeln setzt und diese ggf. auch wieder ändert, wenn es notwendig ist. Auf dieses Vertrauen können Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre Regierung gerade setzen (https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend/index.html ). Über dieses Vertrauen gewinnt die Führung Legitimität und diese Legitimität der Regierung stützt die getroffenen Maßnahmen wie wiederum deren Anerkennung die Legitimität der Regierung stützt. Bemerkenswerterweise stützt dieses Zusammenspiel auch den Zusammenhalt in einer doch sonst individualisierten Gesellschaft. Man fühlt sich in seinen Sorgen mit allen anderen, die die gleichen Sorgen haben, verbunden. Und man solidarisiert sich weitgehend mit der Führung. Speziell, wenn diese nüchtern, kompetent und entscheidungsstark wirkt. Dies ist weder neu, noch vielleicht überraschend. Man kann nur in der Corona-Krise sehr gut beobachten, wie die gemeinschaftlichen Aspekte des Zusammenlebens genauso zugespitzt sichtbar werden, wie ein auf Selbstschutz gerichteter Egoismus.

Wie es scheint, ist gesellschaftlicher Zusammenhalt in Krisenzeiten oft leichter herzustellen (oder zu bemerken) als in Nichtkrisenzeiten. Allerdings neigt er zu einer Orientierung an einer Licht- oder zumindest Leitgestalt. Die dieser Orientierung innewohnenden autoritären Elemente der Unterwerfung können dabei durch partizipative Mitwirkung und Gestaltung der Umwelt durchbrochen werden, sie müssen es aber nicht. So bleibt in solchen Krisen immer die Gefahr eines Zusammenhaltes, der nationalistischen und auch normierenden Tendenzen zuträglich ist. Vor allem, wenn eine gemeinsame Identität oder gar Schicksalsgemeinschaft beschworen wird, ist Vorsicht geboten. Denn eine solche Denkweise kann mit autoritären Einstellungen korrespondieren. Entsprechend sind politische Elemente, wie Transparenz der Entscheidungen, Responsivität für die Ängste in der Bevölkerung und das klare Versprechen, alle Individualrechte nach der Krise, oder wenn diese nachlässt, wiederherzustellen so wichtig. Wirksame Kontrollinstitutionen wie eine von Anfang starke Mitwirkung der Bürger*innen sind dabei genauso bedeutsam, wie ein demokratisches Selbstverständnis der Regierenden. Darauf kann man in Krisenzeiten nur hoffen – sicher ist es, wie der Blick in der gegenwärtigen Krise auf andere Länder zeigt, nicht.

 

Referenzliteratur:

Adorno, Theodor W. 1973. Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt/Main: Suhrkamp. (1. Aufl., orig. 1950).

Almond, Gabriel und Sidney Verba. 1963: The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations. Princeton: Princeton University Press.

Decker, Oliver und Elmar Brähler. 2018. Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft. Gießen: Psychosozial Verlag.

Delhey, Jan, Kenneth Newton und Christian Welzel. 2011. How general is Trust in “Most People”? Solving the Radius of Trust problem. American Sociological Review 76/5: 786-807.

Gerhards, Jürgen und Holger Lengfeld. 2013. Wir, ein europäisches Volk? Sozialintegration Europas und die Idee der Gleichheit aller europäischer Bürger. Wiesbaden: Springer VS.

Pickel, Gert. 2012. Gerechtigkeit und Politik in der deutschen Bevölkerung – die Folgen der Wahrnehmung von Gerechtigkeit für die deutsche politische Kultur im vereinten Deutschland. In: Borchard, Michael, Thomas Schrapel und Bernhard Vogel (Hrsg.): Was ist Gerechtigkeit? Befunde im vereinigten Deutschland. Weimar: Böhlau: 135-172.

Pickel, Susanne und Gert Pickel. 2006. Politische Kultur- und Demokratieforschung. Grundbegriffe, Theorien, Methoden. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag.

Pickel, Susanne und Gert Pickel. 2020. Politische Kultur und gesellschaftliche Integration. In: Pickel, Gert, Kailitz, Steffen, Röder, Antje, Decker, Oliver und Julia Schultze Wessel (Hrsg.): Handbuch Integration. Wiesbaden: Springer VS.

Liebig, Stefan und Meike May. 2009. Dimensionen sozialer Gerechtigkeit. Aus Politik und Zeitgeschichte B47: 3-8.