Wer häufiger in Belarus zu Gast ist, wird bemerken, wie sehr das traditionelle Patriarchat in Auflösung begriffen ist und doch in einer stärker genderdemokratischen Gesellschaft fortlebt. Militär und Polizei – beide besonders stark männlich dominiert – nehmen zentrale Positionen in der belarusischen[1] Gesellschaft ein und genossen bislang ein recht hohes Ansehen. Ehen werden in vergleichsweise jungen Jahren geschlossen, verheiratete Studierende sind keine Seltenheit – und Studierende sind in Belarus 17 bis 23 Jahre alt. Auch Eltern sind – mit westlichen Maßstäben gemessen – häufig sehr jung. Auf der anderen Seite fallen viele Frauen in Leitungspositionen auf. Sie stehen der Zentralen Wahlkommission, Universitäten und vielen Unternehmen vor. Besonders aktiv sind sie im Bereich der Kultur und der Zivilgesellschaft. Die alten Rollenverteilungen, die ideologisch aufgeladen auch weiterhin von Kirche und Staat propagiert werden, lösen sich besonders in der jüngeren urbanen Generation auf. „Heute ist es für Männer 'in', selbständig zu sein“, sagt Jurij im Interview mit tut.by, dem wichtigsten Nachrichtenportal des Landes, während er vor dem Untersuchungsgefängnis auf die Freilassung seiner auf einer Frauendemo festgenommenen Freundin wartet. „Ein Mädchen ist doch eine Muse, keine Haushälterin.“
Die Aufforderung, Frauen sollten sich nicht auf Straßen und Plätzen herumtreiben, sondern zu Hause sitzen und Borschtsch kochen, wie es die Leiterin der Wahlkommission Lidija Ermošina 2010 demonstrierenden Frauen nahelegte, oder die Kräfte für die Familie aufsparen, wie kürzlich aus dem Innenministerium verlautete, seien nicht bloß sexistisch, sondern auch einfach anachronistisch, findet Vitalij, der vor dem selben Gefängnis auf seine ebenfalls festgenommene Frau wartet. Die beiden jungen Männer stehen exemplarisch für den Wandel der Gesellschaft – wie auch der Wahlsieg einer Frau über den wie aus der Zeit gefallen wirkenden Aleksandr Lukašenko. Dieser tritt offen homophob („Besser Diktator als schwul“) und frauenverachtend auf und spielt den starken Führer, gerne auch in Generalsuniform. Seine Anhänger:innen nennen ihn in letzter Zeit häufiger „bat’ka“ („Vater“) und glauben, alle Wohltaten, die der Staat ihnen angedeihen lässt, kämen vom Präsidenten persönlich.
„Saša, der Sexismus hat dich zu Grunde gerichtet“, hieß es an Lukašenko adressiert auf einem Plakat, das eine Demonstrantin in Minsk in die Höhe hielt. Die außerordentliche Aktivität von Frauen bei den Protesten führt auch Jurij vor dem Untersuchungsgefängnis darauf zurück: „Die Aussage Aleksandr Lukašenkos, die Verfassung passe nicht für eine Frau [im Präsidialamt; C.G.], hat sie [die Frauen; C.G.] sehr beleidigt.“
Die Fälschung
Lukašenko und sein Apparat hatten die Stimmung im Land im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen offenbar völlig falsch eingeschätzt. Nachdem alle gefährlich erscheinenden Kandidaten ins Gefängnis gesteckt oder in die Emigration getrieben worden waren, wurde Svetalana Tichanovskaja, der politisch weitgehend unerfahrenen Ehefrau einer dieser Männer, die Kandidatur gestattet. In seiner patriarchalen Hybris sah Lukašenko in einer Frau keine ernstzunehmende Konkurrenz. Da er aber auch sehr gut verstand, dass ihm auch in diesem Jahr kein glanzvoller Sieg gelingen würde, ließ er den Wahlfälschungsapparat anlaufen. Dieser sollte die gewünschten Ergebnisse liefern. Doch Lukašenkos Niederlage war so massiv, dass das nicht mehr funktionierte. Die lokalen Fälscher waren nicht in der Lage, ausreichend hohe Zahlen zu liefern, weshalb die Zentrale Wahlkommission (CIK) „nachbessern“ musste. Nur ein knappes Drittel der offiziellen Auszählprotokolle der Wahllokale wurde öffentlich zugänglich gemacht. Ihnen zufolge kam der amtierende Präsident auf 61,7 % der abgegebenen Stimmen. Die CIK machte daraus 80,1 %. Ein Mann wie Aleksandr Lukašenko gibt sich nicht mit einem „mickrigen“ Ergebnis von 61,7 % zufrieden. Auch wenn die Fälschung dadurch noch offensichtlicher wird. Er tat es, weil er es kann. Dachte er.
Denn offenbar glaubte man im Machtapparat, man könne wie bei früheren Wahlen vorgehen: die Proteste mit brutalster Gewalt zerschlagen, „Rädelsführer“ physisch oder psychisch brechen, ins Gefängnis stecken oder aus dem Land treiben. Und so schlugen die Sicherheitsorgane zu. Mindestens drei Menschen kamen ums Leben, hunderte wurden schwer verletzt, tausende festgenommen. In Polizeigewahrsam wurden Menschen systematisch gefoltert. Erreicht wurde das Gegenteil des Intendierten.
Bei der Suche nach den Ursachen der Protestbereitschaft verweisen manche auf Corona: Nachdem der Staat die Gefahr der Pandemie heruntergespielt und keine Maßnahmen getroffen hatte, begannen die Menschen, solidarische Netzwerke aufzubauen. Schon hier spielten Frauen eine wichtige Rolle. Diese Erfahrungen mit dem Staat und der Gesellschaft seien zentral für die Furchtlosigkeit und die Entschlossenheit, mit der sich die Bevölkerung nun gegen die Diktatur auflehnt. Und wieder sind es die Frauen, die das Heft des Handelns in die Hände nahmen.
Das gegen sich selbst gewendete Patriarchat
An einem der ersten Tage der Proteste kursierte ein Video, das einen brutalen Angriff von Bereitschaftspolizisten (OMON) auf Demonstrierende zeigte. Als sie vor einer Gruppe Frauen standen, riefen diese ihnen zu: „Wir sind doch Frauen!“ Die Schläger zögerten – und ließen die Knüppel sinken. Insgesamt kristallisierte sich das Bild heraus, dass Frauen weniger verprügelt und seltener festgenommen wurden als Männer. Also beschlossen die Frauen, das Patriarchat gegen dieses selbst zu wenden und zogen alleine los. Zunächst stellten sie sich, oft in Weiß gekleidet, der Farbe der Unschuld, in „Solidaritätsketten“ an die Straßen. Sie demonstrierten Entschlossenheit – und Verletzlichkeit, indem sie manchmal barfuß, häufig in Kleidern an den Aktionen teilnahmen. Dann begannen sie, samstägliche Frauenmärsche durchzuführen. Wurden bei diesen oder anderen Aktionen männliche Teilnehmer von Polizisten angegriffen, stellten sich Frauen häufig erfolgreich dazwischen. Frauen durchbrachen oder umgingen Polizeiketten, auf dem Unabhängigkeitsplatz verhöhnten sie die Schwarzuniformierten, nachdem sie diese von allen Seiten eingeschlossen hatten, mit den Rufen „Wir haben die OMON eingekesselt!“ Plakate mit Aufschriften wie „Ich fürchte mich nicht – ich habe schon Kinder geboren!“, „Pack Deinen welken Stock weg“, „Saša, nein heißt nein“ thematisierten sie nicht nur Rollenbilder und deren Zurückweisung, sondern demonstrierten auch ein starkes, weibliches Selbstbewusstsein.
Die Frauen eroberten die Straßen für die Proteste zurück, was auch gelang, weil die Polizisten mit den oft offensiv auftretenden Demonstrantinnen einfach nichts anzufangen wussten. Die Bilder von robocop-artig ausgestatteten Schlägern vor modern gekleideten und akkurat geschminkten, lachenden und singenden Frauen jeden Alters machten die Absurdität der Behauptungen des Präsidenten, er verteidige Belarus gegen eine Invasion, gegen einen „Blitzkrieg“, überdeutlich.
Während westliche Frauenbewegungen von der Zurückweisung essentialistischer Eigenschaftszuschreibungen geprägt sind, ist dies in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nur eingeschränkt der Fall. „Weibliche Eigenschaften“ werden häufig positiv gewendet und offensiv gelebt, wie es jetzt auch auf den Demonstrationen in Belarus zu sehen ist.
Nach der Entführung Marija Kolesnikovas, dem von ihr vereitelten Versuch, sie des Landes zu verweisen, und ihrer anschließenden Inhaftierung nahm die Gewalt auch gegen die Frauen auf der Straße zu. Der Staat versuchte, die Aktivistinnen durch massenhafte Festnahmen einzuschüchtern und andere dadurch von der Teilnahme an Demonstrationen abzuschrecken. Auch hier begann ein Spiel mit Bildern und Rollenvorstellungen. Manche Frauen gingen gekleidet wie für den Laufsteg zu den Aktionen. Aufrecht, oft mit Blumen in der Hand, ließen sie sich zu den Gefangenentransportern führen. Manche hakten sich bei den sie abführenden Polizisten ein oder nahmen sie bei der Hand. Die Bilder, die sofort viral gingen, demonstrierten die Umkehr der Machtverhältnisse – die Frauen dominierten die Situation mit betont friedlichen Gesten, die bewaffneten, maskierten Polizisten in ihrer Schutzausrüstung wirkten dagegen unangemessen und lächerlich.
Mit den Kontrasten von Verletzlichkeit und Entschlossenheit spielt auch ein Videoclip der Regisseurin Marija Michal’čuk. Symbolisch beerdigen weißgekleidete Frauen die Instrumente polizeilicher Gewalt im Wald. Dies kann als Anspielung auf die Morde an Oppositionellen 1999 gedeutet werden, die vermutlich von einer staatlichen Todesschwadron entführt und im Wald umgebracht worden waren. Die Frauen im Clip treten als eine Art „Anti-OMON“ auf: in militärisch anmutenden Stiefeln, als geschlossene Gruppe agierend, die weißen Kleider wie Berufsbekleidung anlegend, in einem Kleinbus mit geschwärzten Scheiben und ohne Autokennzeichen, im SUV und auf schweren Motorrädern zum „Einsatzort“ fahrend – aber lediglich mit Blumen bewaffnet, in leichten Kleidern, empathisch, menschlich, mit unverdeckten Gesichtern. Was mit dem gefesselten Bereitschaftspolizisten geschieht, der vor das Grab im Wald geführt wird, lässt der Film offen. Ob seine Auflösung in auffliegende Schwalben eine Drohung oder in Aussicht gestellte Vergebung symbolisiert, bleibt den Betrachter:innen überlassen.
Die alte Ideologie passt nicht mehr zu den aktuellen Verhältnissen. Seit dem Ende der Sowjetunion sind auch in Belarus neue Generationen herangewachsen, die weit über den Horizont der staatlich und kirchlich verordneten Traditionen und Ideologeme hinausblicken. Der verantwortungslose Umgang der Staatsspitze mit der Coronakrise, die Wahlfälschungen und schließlich die Gewalt gegen die Bevölkerung wirkten als Katalysatoren für eine Selbstermächtigung der Gesellschaft und besonders von Frauen in Belarus. Die Kolumnistin Valerija Kostjugova diagnostiziert eine aktuell stattfindende Überwindung einer ganzen Reihe von Genderstereotypen und -klischees. Dahinter gibt es nun kein Zurück mehr. Oder, wie Nikolaj Chalezin in seinem Artikel „Zeit der Frauen“ im belarusischen Medienprojekt „Reformacija“ bemerkte: „Von nun an werden die belarusischen Männer noch lange beweisen müssen, dass sie in der Lage sind, dem Niveau der belarusischen Frauen zu entsprechen.“
Die Pro-Regierungs-Propaganda reagiert mit Misogynie ...
Der Staat reagiert auf die Herausforderungen mit intensivierter Propaganda. Im hier betrachteten Zusammenhang interessieren besonders deren Genderaspekte. Und hier zeigt sich, dass die Regierungsseite wirklich vollständig in irgendwelchen Vergangenheiten steckengeblieben ist und glaubt, damit noch überzeugen zu können.
Beginnen wir mit dem Unterirdischsten (wer einwendet, es gebe keinen Superlativ von „unterirdisch“, wird im Folgenden eines Besseren belehrt), was Lukašenkos Propagandisten zu bieten haben.
Die weiß-rot-weiße Fahne, die von 1991 bis 1995 offizielle Staatsfahne war, ist heute – wie auch schon in den späten 1980er Jahren – das Symbol der Protestbewegung. Da das Symbol unter deutscher Besatzung auch von belarusischen Kollaborateuren benutzt wurde, bezeichnen Lukašenko und seine Anhänger es als „faschistische Flagge“ – und meinen, vom Symbol auf die Bewegung schließen zu können. Diese sei faschistisch, wird immer wieder behauptet, außer der Fahne werden jedoch keine Belege angeführt.
Auf der Suche nach weiteren Möglichkeiten, die Protestsymbolik und deren Träger:innen zu diskreditieren, kamen anonyme Propagandisten auf die „geniale“ Idee, die Fahne als „gebrauchte Damenbinde“ und die Bewegung als „Damenbinden-Revolution“ zu charakterisieren. Manche sahen sich zu „künstlerischen“ Aktivitäten motiviert, die kaum anders als spätpubertär-sexistisch zu bezeichnen sind. Dabei wird die Fahne selbst mit dem für die Protestierenden verwendeten und abwertend gemeinten Begriff „zmahar“ (belarusisch „Kämpfer“) identifiziert, was auf die Herabwürdigung und Lächerlichmachung insbesondere der männlichen Protestteilnehmer abzielt: „Der Zmahar ist eine gebrauchte Damenbinde.“ Gleichzeitig wird damit versucht, die weiblichen Protestierenden zu beschämen, indem immer noch Schambesetztes öffentlich abwertend behandelt wird.
Eine ähnliche Stoßrichtung wird mit der Gleichsetzung von Aktivistinnen mit Prostituierten verfolgt. Besonders weit ging in dieser Richtung der Telegram-Kanal „Žëltye Slivy“ („Gelbe Pflaumen“ oder „Gelbe Leaks“; Anfang Oktober 2020 rd. 77.000 Abonnent:innen), der am 3. September ein Foto von einer Frauendemonstration mit dem Kommentar unterschrieb: „Heute hat in Minsk ein Prostituiertenmarsch stattgefunden.“ Alles deutet darauf hin, dass dieser anonyme Kanal von staatlichen Organen betrieben wird, darunter vermutlich auch von der staatlichen Rundfunkanstalt „Belradiotelekompanija“, die sich in ihren offiziellen Nachrichten und Kommentaren derartige Diffamierungen nicht leisten könnte. Manche Frauen begegnen solchen Vorwürfen, indem sie auf Demonstrationen Schilder mit der Aufschrift „Prostituierte“ tragen.
… und Homophobie
Regelrecht besessen scheinen die Propagandisten von der LGBTIQ-Thematik zu sein. Die Protestbewegung selbst lieferte dazu eigentlich keinen Anlass, da weder bekennende Homosexuelle, noch LGBTIQ-Rechte in irgendeiner Form eine Rolle spielten. Dennoch montierten die Lukašenko-Anhänger selbst in den unpassendsten Kontexten die Regenbogenfahne in Fotos und Karikaturen. Als sich Anfang September tatsächlich LGBTIQ-Aktivistinnen auf einem Frauenmarsch demonstrativ unter Regenbogenfahnen küssten, bekamen die homophoben Propagandisten endlich reales Material. Die wenige Sekunden langen Videoaufnahmen werden seitdem in kleine Propagandavideos eingebaut und in regierungsfreundlichen Telegram-Kanälen veröffentlicht.
Umfangreiche Diskreditierungsversuche werden gegen den Gründer des wohl wichtigsten Oppositionsmediums NEXTA (sprich: „nechta“; belarusisch: „jemand“; Telegram-Kanal mit mehr als zwei Millionen Abonnent:innen) unternommen: Der in Warschau arbeitende Journalist Stepan Putilo sei nicht nur ein Nachrichtenfälscher, sondern darüber hinaus auch noch schwul, was seine „negative“ Haltung gegenüber seinem Heimatland und dessen Bewohnern erkläre.
Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten überrascht das Männerbild der Regierungsanhänger nicht sonderlich. Die Propaganda ist voll von waffentragenden, muskelbepackten „echten“ (i.e. heterosexuellen) Kerlen. Gewalt und Waffen werden in verherrlichender Weise gezeigt, Gewalt gegen Oppositionelle sowie Journalist:innen ausdrücklich gutgeheißen.
Ein „Empathiker“ für den Präsidenten
Ein Lukašenko-Anhänger, der vermutlich unabhängig und aus eigener Motivation handelt, ist der in den letzten Wochen zu einiger Bekanntheit gelangte „Dmitrij Ėmpat“. Der unter Pseudonym auftretende junge Mann hat im August den Telegram-Kanal „JaMyBat’ka“ („IchWirVater“) gegründet, der in größeren Städten über lokale Ableger verfügt. Mit gut 8.000 Abonnent:innen (Anfang Oktober 2020) gehört er zu den größten Pro-Regierungskanälen. Anders als die anonymen Verantwortlichen anderer Kanäle reagiert „Ėmpat“ auf Interviewanfragen.
Der Inhalt seiner Kanäle unterscheidet sich nicht sonderlich von dem anderer Pro-Regierungskanäle, tatsächlich repostet man sich gegenseitig. In Interviews wirkt „Ėmpat“ wie ein typisches Kind des Autoritarismus. Befragt zu den Gewalttaten der Sicherheitskräfte sagt er, er habe solche nicht selbst gesehen. Aber bevor man das Verprügeln Festgenommener verurteile, solle man fragen, „für was diese Leute geschlagen wurden“. Wenn es einen Grund gibt, ist es für „Ėmpat“ ganz gewöhnlich, dass der Bat’ka („Vater“) schlägt – auch Wehrlose. Von Gewaltenteilung hat der junge Mann, der bekennt, ausschließlich Lukašenko zu glauben, offenbar noch nie etwas gehört.
In eine ähnliche Richtung ging seine Reaktion auf die Frage, was er vom Angriff eines Bereitschaftspolizisten auf einen Mann halte, der mit hinter dem Kopf verschränkten Händen auf dem Boden kniete – und brutal von hinten niedergeschlagen wurde: Fast schon verzweifelt wiederholt er wieder und wieder, man habe sich mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden zu legen, wenn ein Bereitschaftspolizist das fordere, man müsse einfach gehorchen. Für das Kind des Systems gelten nur die Regeln des autoritären Staates, Fragen der Verhältnismäßigkeit tangieren ihn nicht.
In einem späteren Interview macht er es sich einfacher, indem er die inzwischen etablierte Strategie übernimmt, in „Europa“, wohin die Oppositionellen doch alle wollten, wende die Polizei auch Gewalt an. Der Europabezug ist übrigens eine von vielen Falschaussagen, denn die Protestbewegung positioniert sich ausdrücklich nicht pro-europäisch.
Zu „Ėmpats“ Verhältnis zur Gewalt passen auch seine Gründe, den abgewählten Präsidenten zu verehren. Verfassungsmäßigkeit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie spielen dabei keine Rolle: An Lukašenko gefalle ihm „die Härte des Charakters und, dass dieser Mensch sich einfach mit den Zähnen an dieses Land klammert und es an niemanden weggibt“, sagte „Ėmpat“ drei Wochen nach den Präsidentschaftswahlen im Interview mit „Radio Liberty“.
Interessanterweise bekennt „Ėmpat“, dass er die Präsidentschaftswahlen vom 9. August für gefälscht hält. Mehr als 60 oder 65 % habe Lukašenko gewiss nicht bekommen. Dennoch bezieht er für den Fälscher Position. Der interviewende YouTuber lässt hier die Chance verstreichen, „Ėmpat“ zu dessen Verhältnis zur Demokratie zu befragen.
Die vielleicht ehrlichste seiner Antworten betrifft seine Motivation, den Kanal zu betreiben: „Kajf“, sagt er auf Belarusisch und meint damit den „Kick“.
[1] Entsprechend den Empfehlungen der Belarusisch-Deutschen Geschichtskommission wird im vorliegenden Beitrag der offiziellen Landesbezeichnung Belarus Vorrang vor der im deutschsprachigen Raum immer noch üblichen Bezeichnung „Weißrussland“ gegeben. Das Land war und ist nicht Teil Russland, wie manche Deutsche immer noch annehmen, und auch die historische Landschaftsbezeichnung Rus’ bedeutet keineswegs „Russland“. Die belarusische Sprache ist kein Dialekt des Russischen und mithin nicht „Weißrussisch“. Das auf die Sprache und den Staat verweisende Adjektiv müsste daher rusisch lauten; analog dazu werden Angehörige der belarusischen Ethnie als Belarusen bezeichnet.
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Christian Ganzer hat in Freiburg und Hamburg Geschichte, Osteuropastudien und Volkskunde studiert. Seine Forschungsschwerpunkte sind Museumsforschung, Militärgeschichte, Erinnerungskulturen im östlichen Europa sowie neuere belarusische Geschichte. 2019 promovierte er mit einer Arbeit über die Brester Festung (Belarus) an der Universität Leipzig in Vergleichender Kultur- und Gesellschaftsgeschichte.